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Die Provinz des Menschen

Das Mülheimer Theater an der Ruhr feiert, ohne die zur Show aufgeblasene Geste des unermüdlichen Rebellen, sein zehnjähriges Bestehen. Schon zeigen sich die Züge eines neuen Aufbruchs.  ■ Von Ulrike Haß

Das Theater feiert, wie man Geburtstage eben feiert: Man lädt Leute ein und bekommt Geschenke. Der „Initiativkreis Ruhrgebiet“ schenkt dem Theater an der Ruhr bespielsweise ein Festival — Theater für Europa — Entdeckungen, an dem sich das slowenische Nationaltheater Maribor mit Faust I, II und Hamlet sowie das Satirikon- Theater Moskau mit Genets Zofen beteiligen. Das Roma-Theater Pralipe wartet mit Shakespeares Othello auf (die Premiere mußte kurzfristig wegen Erkrankung eines Schauspielers auf den 27. November verschoben werden). Dieses einzige Roma- Theater in Europa ist zugleich die einzige Institution, die die aus dem altindischen Sanskrit stammende Sprache der Roma, das Romanès, auf einer künstlerischen Ebene weiterzugeben versucht. Es wird vom Theater an der Ruhr seit Beginn dieses Jahres „beherbergt“, nachdem es durch die Streichung seiner Subventionen im jugoslawischen Pralipe vor dem sicheren Aus stand. Durch die Initiative des Theaters an der Ruhr ist jetzt erreicht, daß das Kulturministerium Nordrhein-Westfalen die Arbeit des Theater Pralipe kontinuierlich fördert. Eine engere Zusammenarbeit der beiden Theater, zu denen noch ein drittes aus der Türkei kommen soll, ist beabsichtigt.

Alle internationalen Kontakte des Theaters an der Ruhr (vor allem zu Jugoslawien, Polen, Griechenland, der Türkei) basieren auf langjähriger Kenntnis der jeweiligen „Theaterländer“ und ihrer innovativen Theater. Manchmal sind es alte künstlerische Freundschaften oder auch ästhetische Verwandtschaften, was jedoch niemals die Ebene des Augenscheinlichen bedeutet, sondern vielmehr eine Verwandtschaft in der Radikalität und Aufrichtigkeit des Fragens. Man kann diese langjährigen Verbindungen des Theaters an der Ruhr zu den Theatern, die alle (oder zumindest fast alle) südosteuropäischer Provinienz sind und die dem Mülheimer Publikum alljährlich in Form kleiner Festivals vorgestellt werden, keinesfalls mit dem multikulturellen Gehabe der Berliner Provinz vergleichen. Während es hier eher um den Yuppie-Standpunkt in der Kultur geht (Thema: Horizonterweiterung zur Show der eigenen Weitläufigkeit), geht es dem Theater an der Ruhr um einen Umgang mit der Fremde, der dem Fremden die Würde beläßt. Eine der elementarsten, vielleicht derzeit die wesentliche Herausforderung für Theaterkunst überhaupt. Warum?

Das Theater als Behältnis von Bürgersinn, der sich tagsüber arbeitsteilig in Fleiß übt, während er sich abends zur gleichwohl öffentlichen Pflege seiner geistigen Ideale im Forum des Theaters zusammenfindet, tut sich mit dem Fremden schwer. Dem Mechanismus der bürgerlichen Produktivität entsprechend kann er das Fremde nur im Ausschluß, als Stigmatisiertes, wahrnehmen oder in der Einverleibung, der Integration, die den Tod des Fremden voraussetzt. Diesen Mechanismus hat zuletzt Foucault als die Doppelstrategie bürgerlicher Gesellschaftsformierung immer wieder, geduldig, beschrieben: bezüglich des Wahnsinns, der Krankheit, der Sexualität, der Frauen. Das Theater, so könnte man hinzusetzen, hat diesem globalen bürgerlichen Mechanismus des Umgangs mit dem Fremden bislang als maßstabgerechte Projektionsfläche gedient. Mit einem endlos sorgenvollen Blick auf seine Publikumswirkung hat es einen Mechanismus ausgebildet, den Heiner Müller einmal, sich an Brecht anlehnend, in dem Satz zusammengefaßt hat: Das Theater theatert alles ein. Diese Ordnung der Dinge endet für uns heute in einer professionellen Uniformität, einer sanierten Gleichförmigkeit des Alltags, die niederschmetternd ist. Sollte ausgerechnet das Theater eine winzige Chance haben, den Ariadnefaden nach draußen zu spinnen?

Was ausgerechnet das Theater dazu zu prädestinieren scheint, das ist seine angestammte Rolle als öffentlichkeitswirksamer Spiegel eines Bürgertums, das sich sein nationalsprachliches Ideal buchstäblich einbilden mußte, um es als nationalstaatliche Vereinbarung in die Realität entlassen zu können. Wenn heute die nationalstaatliche Idee (im Gegensatz zur nationalen) europaweit ihre historische Niederlage hinnehmen muß, ist es nicht von allen möglichen Künsten gerade das Theater, das, aus seiner Spiegelfunktion und seiner Kristallisationswirkung entlassen, einen älteren Teil seiner medialen Vereinbarungen aufsuchen muß — oder es geht eben gar nicht mehr?

Im Theater handelt es sich heute um einen Prozeß doppelter Freisetzung: entlassen aus den alten Vereinbarungen, steht es mit leeren Händen da. In derartigen Prozessen geht ein großer Teil vor die Hunde und ein kleinerer Teil überlebt in transformierter Gestalt. Von dieser transformierten Gestalt läßt sich nicht sagen, ob sie besser oder schlechter ist als frühere. Es läßt sich nur sagen, daß sie die einzige ist, die uns übrig bleibt. Sicher ist für diesen sehr schmalen Grat, der da übrig bleibt, der Umgang mit dem Fremden Kennzeichen und Prüfstein. Ihn muß ein Theater gehen können, das in Zeiten des allgemeinen Verfalls bürgerlicher Grenzbildungen auf der genauso grundsätzlichen wie einfachen Wahrnehmung beharrt, daß „das wichtigste Problem, nämlich der Mensch, ungelöst geblieben“ ist, wie es Rahim Burhan ausdrückt, der Theaterleiter von Pralipe. Es geht um einen Umgang mit dem Fremden, der nicht in der Sackgasse der Einverleibung von Kenntnissen, Wahrheiten, Denkmälern seiner selbst endet. Es geht darum, die Einsicht in die grundsätzliche Verlassenheit eines jeden mit der Berührung zu paaren, die eben nur jenseits des ihr eigenen Anspruchs auf Verwirklichung eine wirkliche Berührung ist.

Als Einsicht und als Schmerz hält sich dieser Zusammenhang in jeder beliebigen, einfach in allen Liebesgeschichten bereit. Von ihnen wird sich die Menschheit bis zu ihrem letzten Seufzer ernähren, sagt eine Kennerin dieses Zusammenhangs, Marguerite Duras. Das Theater ist dem sogenannten wirklichen Leben gänzlich überlegen darin, daß es den Schmerz aus der Einbahnstraße des Unglücks zurückzuverwandeln vermag in das, was er einmal war: ein Fest. Es ist der Ort einer spielerischen Regression, gleichzeitig aber auch eine Enklave in einer Welt ohne Mythos. Und mit dem Begriff der Enklave beginnen die Fragen an das Theater von vorn. Jetzt aber auf einer verschärften Ebene, die den wahrscheinlichen Ausmaßen der Katastrophe der Moderne angemessen ist: Eine Enklave ohne Verbindung zur Umwelt ist zu ihrer eigenen Mumifizierung verurteilt, wie weiter also?

Zu diesen Überlegungen verführt ein Theater, das seinen Umgang mit dem Fremden nicht zu einem Thema macht, das gegen andere Themen austauschbar wäre, sondern zum Beweggrund seiner selbst. Das die Spannung, als Fremder in einer fremden Heimat zu sein, aushält als Wissen um die Unmöglickeit jeglicher Rückkehr, für immer. Und daraus Funken schlägt gleich jener kleinen Schar von unpopulären und gleichwohl volkstümlichen Freigeistern, zu denen auch der Dichter Jakob Haringer gehörte, der kurz vor seinem Tod 1948 notierte: „Die in der Sehnsucht leben, wachsen zu Riesen. (...) Das Erlebnis ist der Grabstein der Phantasie, schon deshalb flieht der Träumer oft die Erfüllung seiner Sehnsucht.“

Man mag bei dem Wort „Erlebnis“ stocken. Denn muß dem Theater nicht gerade darum zu tun sein, das

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unwiederholbare Erlebnis herzustel-

len? Wenn das Theater auf das Erlebnis hinarbeitet, um es als seinen unverwechselbaren Reichtum zu präsentieren, muß es das Erlebnis indes verfehlen. Die im Voraus als unvergeßlich annoncierten Abende sind ihr Gegenteil. Die absolut unsinnige Parole vom Theater, das „immer live“ ist, gibt als Besitz aus, was sich definitiv dem Besitz entzieht: die unvermutete Begegnung. Wie aber soll ausgerechnet das Unerwartete, dessen Eintritt (das Erlebnis) sich nicht berechnen läßt, zum Bestand eines Theaters werden können? Und um die Feier eines inzwischen schon zehnjährigen Bestehens geht es hier doch wohl gerade? Die Antwort ist einfach, aber schwer zu machen: indem ich nicht auf den Theaterabend abziele, sondern ihn produziere in Form eines „Bündnisses, das ich unterwegs mit all dem schließe, was ich hinter mir lassen muß“ (Klaus Heinrich).

Die Inszenierungen des Theaters an der Ruhr sind, im besten Sinn des Wortes, Abfälle solcher Bündnisse, die unterwegs geschlossen wurden. Abfälle, die im Gegensatz zu quasi erfüllten oder sogenannten gelungenen Theaterabenden sich eingraben in das Gedächtnis mit den Widerhaken einer in ihnen inkarnierten lebendigen Begegnung. Diese, und eben nur diese, ermöglicht das Erlebnis im Wortsinne: daß ich etwas erfahre, das mir — im realistischen Passiv des Zuschauers — eine neue, noch nicht bewußte Möglichkeit der Wirklichkeit in Erfahrung gebracht wird, die meine Wahrnehmung, wie geringfügig auch immer, verändert.

Geburtstag hat also vor allem das Repertoire des Theaters an der Ruhr, das vierzehn Stücke zählt. Kommt eine neue Inszenierung hinzu, muß eines der Stücke aus dem Repertoire verschwinden, denn natürlich sind den Aufbewahrungsmöglichkeiten Grenzen gesetzt. Eine der ältesten, noch im Repertoire befindlichen Inszenierungen, Gott von Woody Allen, wird im nächsten Frühjahr zehn Jahre alt. Aber auch Büchners Dantons Tod — mit der fast schon legendären Danton-Figur von Hannes Hellmann — ist noch zu sehen, oder die Inszenierung von Sartres Tote ohne Begräbnis oder der Kroatische Faust von Slobodan Snajder oder Handkes Kaspar, der Maria Neumann ist, die später das Käthchen von Heilbronn sein wird... In der Pflege eines Repertoires dieser Art ist nichts von der Sehnsucht nach einem Marmorhintern des Theaters zu spüren. Vielmehr schlägt sich darin ein bestimmtes Verhältnis zum Gedächtnis nieder, dessen spezifischer Arbeitsweise man eine Chance einräumen möchte: nämlich als Medium des Erlebten zu fungieren. Vieles zum Verhältnis von Theater und Erinnerung ließe sich von hier aus präzisieren, das in jedem einzelnen Fall beginnen müßte mit dem Gedächtnis des Schauspielers.

Pünktlich zum Geburtstag ist im kleinen Kölner Verlag Scherrer & Schmidt ein Buch mit dem schönen Titel Das Abendland versuchen erschienen, in dem die Autorin Erinnya Wolf Erinnerungsstücke zusammenträgt, die viele Jahre dieses Theaters betreffen. Betont subjektiv gefärbte Erinnerungen an einzelne Inszenierungen, Gesprächsfetzen, „aufgehobene“ Zitate von Roberto Ciulli und Helmut Schäfer, ein Aufsatz von Ulrich Greb zur Musik in den Mülheimer Inszenierungen, ein wunderschöner Text von Gordana Kosanovic über das Spiel von Lulu als einer „Seiltänzerin ohne Netz“ aus dem Jahr 1986, in dem sie starb, Fotos (diese hilflosen Relikte). Die Bitte um Rezension dieses Buches gab eigentlich den Abstoß zu diesem Artikel. Darin hin- und herblätternd, wird man nicht auf die Autorin, sondern auf das Theater verwiesen — und das ist eigentlich das Beste, was man von einem derartigen Buch sagen kann. Darüber hinaus deutet sich im Radius der erreichten Erinnerungsstücke jedoch auch eine bestimmte Beschränkung an, die einem weit verbreiteten Mißverständnis entspricht.

Es betrifft das Verhältnis zum Mythos, zum „mythischen Riß“, den man für ewig hält, weil er so grundlegend erscheint. Alles scheint sich darauf abbilden zu lassen: der Geschlechterkampf, die Leiden an der Natur des Menschen, die verdrängte Sterblichkeit und die abendländische Dialektik, wie sie sich im Satz niederschlägt Gott ist Gottes Teufel. Eine Wahrnehmnung, die diesen engen dualistischen Rahmen nicht verläßt — und das geschieht selten, denn dieser selbe Rahmen suggeriert auf fatale Weise enzyklopädisches Allwissen —, versandet in beliebiger Poeterei (wie das die postmodernen Moden vorführen) oder wird eine ereignisloses Theater herstellen. Das ist der Normalfall für die belesenen, kunstfertigen „modernen“ Inszenierungen heute.

Demgegenüber muß von der Endlichkeit all dieser Farbe, Stoffe, Kämpfe, Geschichten und Bilder ausgegangen werden. Dies ist zunächst ein gedanklicher Prozeß, denn er spielt sich am Rand der Unvorstellbarkeit ab. Von den natürlichen Ressourcen weiß man inzwischen, daß sie keineswegs unerschöpflich sind. Ähnliches gilt für den naturmythischen Riß, dem unsere sämtlichen gedanklichen Materialien und Vorstellungswelten abgetrotzt sind. Jetzt wird ihnen der Wind der Geschichte aus den Segeln genommen. Sie reichen angesichts der neuen, technisch dominierten Anonymität der Verhältnisse nicht mehr hin.

Das Theater an der Ruhr verantstaltet (mit Unterstützung des Kultusministeriums Nordrhein-Westfalens, womit die Liste der Geburtstagsgeschenke vollzählig genannt ist) ein Europäisches Theatersemimar Das Theater nach dem Verfall der Geschichte (nicht öffentlich), in dem es um diese Fragen gehen wird. Fragen, die weniger beantwortet als zuerst geöffnet werden müssen, soll es für das Theater überhaupt eine winzige Chance geben, den Ariadnefaden, den es in der Hand hält, nicht vorzeitig zu verspielen.

Roberto Ciulli sagt: „Es geht auch darum, den Standort zu finden. Wir wissen nicht mehr, wo wir stehen, wir treiben... Die eigene Sprache des Theaters müssen wir suchen... Und natürlich müssen wir erkennen, daß der abendländische Humanismus, die abendländische Kunst nur ein Kapitel der Gattungsgeschichte ist. Eine Wissenschaft, Gentechnologie etwa, die uns bald allen kulturellen Wurzeln entbindet, hat sich längst verselbständigt. Wir müssen wahrnehmen, daß wir eine aussterbende Gattung sind. Mutanten. Und wir müssen erkennen, daß das ,europäische Haus‘ daran mitarbeitet, kulturelle Identität zu zerstören. (...) Theater ist der verzweifelte Versuch, das Verschwinden des Menschen aufzuhalten.“

Eine Ausstellung im Foyer der Stadthalle Mülheim versammelt bis zum Ende des Monats Dokumente der zehnjährigen Arbeit des Theaters an der Ruhr.

Literatur: Erinnya Wolf (Hrsg.). Das Abendland versuchen. Das Theater an der Ruhr. Schmidt und Scherrer Verlag. Köln 1991. 155 Seiten, broschiert mit Abbildungen. 32 Mark

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