: Die Enthauptung des Wladimir Iljitsch
■ Gestern um 10 Uhr wurde die Berliner Lenin-Statue geköpft/ Jede Hilfe kam zu spät
Berlin (taz) — Die Operation war mit Hammer und Meißel chirurgisch sauber vorbereitet worden. Erst wurde die Säge an der Halskrause angesetzt, dann vier Schrauben in die Glatze gebohrt. Die eigentliche Trennung von Haupt und Rumpf wurde binnen weniger Minuten und ohne Blutvergießen vollzogen: Gestern morgen um 10 Uhr schwebte der voluminöse Grantitkopf des Vaters der russischen Revolution langsam vom 19 Meter hohen Standbild im Ostberliner Bezirk Friedrichshain, wurde auf einen Sattelschlepper geladen und zur Zwischenlagerung in den Köpenicker Stadtforst gefahren.
Augenzeugen der Enthauptung waren eine Handvoll Trauergäste, ein paar Fernsehteams und viele Fotografen. Die Baufirma hatte die Demontage von Lenis Haupt kurzfristig um zwei Stunden vorverlegt, wohl um die Gegner des Abrisses, die um 12 Uhr mittags zu einer Kundgebung aufgerufen hatten, ins Leere laufen zu lassen. Die Wut der Genasführten war groß. „Das ist eine Schweinerei“, zeterte eine Angestellte im öffentlichen Dienst, die sich extra einen Haushaltstag genommen hatte, um gegen die Demontage zu demonstrieren. „Wer das Lenin-Denkmal abreißt, reißt die DDR-Geschichte mit ab.“ Beifall der Umstehenden.
Auch mehrere Punks, die sich mit anderen seit einer Woche bei einer Mahnwache vor dem Bauzaun abwechseln, sind an diesem Morgen zu spät aus den Federn gekrochen. Der 17jährige Mampf mit dem Totenkopf auf der Lederjacke, der schon von weitem gesehen hat, daß „der Kopf ab ist“, fühlt sich „vom Westen wieder einmal völlig verscheißert“. Er und seine Freunde sind sich sicher, daß nach Lenin, das Thälmann-Denkmal und das Marx-Engels-Forum drankommen. Auch wenn sie Lenins Abriß nicht mehr verhindern können, wollen die Punks in ihrem Zelt solange hier ausharren, bis der letzte der 125 Granitblöcke abgebaut und verladen worden ist. Mampf, der von sich sagt, er sei Anarchist, hält das Denkmal für Geschmackssache. „Ich finde es gut, wie der dasteht. Die eine Hand an der Brieftasche, die andere zu einer Faust geballt, die nach unten hängt. Der Kopf ist vielleicht etwas zu klein geraten.“ Auch wenn Lenin viele Anarchisten umgebracht hat, hätte das Denkmal stehen bleiben müssen, weil es DDR-Geschichte sei, meint Mampf. „Lernen, lernen und nochmals lernen“, zitiert der 17jährige den Führer der russischen Revolution. „Ich nehme mir den Spruch sehr zur Herzen, weil er voll zutrifft, wenn man nach dem Anschluß zum Westen nicht auf der Strecke bleiben will: machste nichts, kannste nichts!“ Darum, so Mampf, besuche er jetzt auch die Berufsschule für Hauswirtschaftslehre. „Da kann ich später überall Hauswirt werden“, hofft er. Plu
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