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Haiti: „Hier herrscht das Mittelalter“

Bericht eines deutschen Entwicklungshelfers über die Folgen des Handelsembargos gegen die Putschistenregierung/ Die Armut wächst, Zehntausende von Arbeitsplätzen verschwinden und immer mehr Menschen wollen auswandern/ Doch das Embargo ist politisch notwendig  ■ Von Jan Eggersglusz

Soldaten stehen an den Tankstellen Haitis. Sie überwachen den Verkauf eines immer knapperen Gutes: Benzin. Normalverbraucher erhalten „youn ti galion“ — Sprit für höchstens zehn haitianische Dollar. Da die Preise täglich steigen, wird diese Menge immer kleiner. Die Kumpane der Militärs hingegen bekommen „plisiye gro drum“, soviel wie sie wollen.

Das gegen Haiti verhängte Wirtschaftsembargo trifft die Bevölkerung schwer. Die Hauptstraße von Port-au-Prince, der Boulevard J.J. Dessaline, ist fast autofrei. Viele Geschäfte haben ihre eisernen Rolläden heruntergelassen, immer mehr Verkaufsstände auf Märkten und Boulevards sind verwaist. Der Grund: Viele Hauptstadtbewohner können die Innenstadt wegen des zusammengebrochenen Nahverkehrs nicht erreichen. Vor allem aber sind schätzungsweise 100.000 Menschen aus Port-au-Prince zu Verwandten auf dem Land geflüchtet, um Übergriffen der Militärs und der weiteren Verschlechterung der Ernährungslage zu entgehen.

„Jetzt schon herrscht hier das Mittelalter“, sagt ein Entwicklungshelfer. „Dauert das Embargo an, finden wir bei unserer Rückkehr ein Land der Steinzeit wieder.“ Er ist auf der Ausreise aus Haiti. Bereits 90 Prozent der in Haiti arbeitenden Ausländer sind gegangen, den Warnungen der Botschaften vor einer bevorstehenden, embargobedingten „massiven Verschlechterung der Sicherheitslage“ folgend. Nur das wichtigste Botschaftspersonal muß ausharren, um notfalls die militärische Evakuierung der restlichen Staatsbürger und ihrer selbst zu organisieren.

90 Prozent der Ausländer sind gegangen

Wie viele Haitianer in diesen Tagen ihr Land verlassen und auf hochseeuntauglichen, hölzernen Segelbooten versuchen, die USA oder die Bahamas zu erreichen, läßt sich nicht abschätzen, auch nicht, wie viele dabei ihr Leben lassen. Die US Coastguard hat aber in zehn Tagen zehn überfüllte Segelschiffe aufgebracht. Nun bemüht sich die US-Regierung bei Honduras und Belize um ihre Aufnahme.

Die Abreise der Ausländer hat zum Wegfall von mindestens 20.000 Arbeitsplätzen geführt, wobei der Verlust an Arbeitsstellen in Entwicklungsprojekten kaum abzuschätzen ist. Das SOS-Kinderdorf in Cap Haitien hat nur noch für einige Tage Lebensmittel. Den Reis, der üblicherweise sackweise gekauft wird, kann es wegen der Nahrungsmittelknappheit nur in Kleinstmengen auf dem Schwarzmarkt zu maßlosen Preisen erstehen. Gleichzeitig liegen 50 Tonnen Notnahrungsmittel im Depot der Hilfsorganisation „Care“ in Gonaives, die nicht transportiert werden können. Eine andere Hilfsorganisation, die Infrastrukturmaßnahmen fördert, mußte ihre Baustelle stillegen, da kein Material mehr erhältlich ist. Der schon eingekaufte Zement härtet in den Säcken, die Arbeiter wurden entlassen.

Als Folge des Embargos schließen täglich Betriebe. Aus den 50.000 Arbeitsplätzen in der Montanindustrie sind mittlerweile 30.000 geworden. Da ein Beschäftigter durchschnittlich zehn Familienmitglieder ernährt, sind von solchen Entwicklungen Hunderttausende existenziell betroffen. Die gegenwärtig stattfindende Kaffee-Ernte kann den wirtschaftlichen Verfall nicht aufhalten: Da der Kaffee nicht mehr in das Hauptabnahmeland USA exportiert werden kann, kaufen die Exporteure nicht mehr auf, so daß die Bauern ihre Einnahmen verlieren.

„Großes Unten“ und eine Mario-Neretten-Regierung

Das Wort „Embargo“ ist für die Mehrzahl der Haitianer ohnehin unverständlich. In der kreolischen Landessprache wird dafür das Wort „anba gro“ benutzt: das „Große Unten“ — womit die Wirkung ziemlich genau beschrieben wird. Denn die ärmeren Bevölkerungskreise, die städtischen Armen und die Bauern trifft es zu erst. Die Oberschicht dagegen kann sich einige Zeit mit dem Embargo einrichten. Auf Umwegen finden so manche ausländischen Güter ihren Weg nach Haiti. Einigen haitianischen Großkaufleuten gelang es sogar, eine Tankerladung Öl auf dem Spot-Markt zu erstehen und bar zu bezahlen. Der Tanker erreichte Haiti aber nie: In einer Aktion, die der Politiker Marc Bazin einen „Piratenakt“ nannte, wurde er von den USA aufgebracht.

Die langfristigen Folgen des Embargos werden verheerend sein. Haiti ist nicht das einzige Niedriglohnland der Karibik, und es ist damit zu rechnen, daß Unternehmer sich einen anderen Standort suchen. Dennoch scheint das Embargo das einzige Mittel zu sein, um Militär und Großbürgertum zum Einlenken zu bewegen. „Tout moun se moun“, alle Menschen sind Menschen, lautete das Versprechen Aristides. Doch wenn es jetzt zu keiner politischen Lösung kommt, gilt wieder der Spruch vergangener Zeiten: „Tout moun pa moun“, nicht alle Menschen sind Menschen.

Für die neuen Machthaber hat die Bevölkerung nichts übrig. „Präsident“ Nerette, den die Deputierten des Parlaments unter der Drohung schußbereiter Militärs wählen mußten, heißt im Volksmund bereits „Monsieur Mario-Nerette“. Die neuen Machthaber fürchten die Rückkehr Aristides an die Macht wie der Teufel das Weihwasser. „Lieber sterben wir“, sagte unlängst der Putschistengeneral Cedras. Die hohen Offiziere wollen ihre Einkünfte aus Rauschgiftschmuggel nicht missen. Über die Haltung der einfachen Soldaten, der „petits soldats“, kann man nur mutmaßen. Nicht ausgeschlossen scheint, daß auch sie gegen Aristide sind, weil sie um ihre ererbten Privilegien fürchten müssen. Außerdem können sie jetzt wieder ungestraft beweisen, daß sie die Herren im Lande sind.

Der Autor (Name von der Redaktion geändert) reiste vor wenigen Tagen aus Haiti nach Deutschland aus.

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