: Menschenleben spielten keine Rolle im Kampf der Symbole
■ Jenseits aller politischen und militärischen Rationalität war die seit 83 Tagen belagerte Stadt in Ostslawonien für beide Seiten zum Fetisch geworden
„Vukovar ist unser Stalingrad — wir schwören, es nicht aufzugeben.“ Wie die deutschen Truppen im Winter 1942/43 sollten die jugoslawischen Aggressoren heute im Kampf Straße um Straße, Haus um Haus, Keller um Keller ihr Massengrab finden. So wollten es die kroatischen Verteidiger Vukovars, und so wollte es die öffentliche Meinung Kroatiens. Längst war für beide Seiten der Kampf um die Stadt zum Fetisch geworden — jenseits aller politischen und militärischen Rationalität. Aber wie die meisten historischen Analogien hat auch diese getrogen: Zu keinem Zeitpunkt konnte die militärische Führung in Zagreb darauf hoffen, neue Streitkräfte in genügender Zahl und Bewaffung an die Front von Vukovar zu werfen und so — wie in Stalingrad — das „Kriegsglück“ zu wenden. Sie wurde zum Opfer eines Mythos, der von ihr selbst geschaffen worden war.
Dabei hatte es lange Zeit so ausgesehen, als ob das Unmögliche, das „militärische Wunder“ in Vukovar wahr würde. Mehrfach in den letzten Wochen fuhren Panzerverbände der serbisch-jugoslawischen Seite bis ins Stadtzentrum, um dann mangels Infanterieunterstützung umkehren zu müssen. Nach vorsichtigen Schätzungen hat die Bundesarmee bisher mindestens 2.000 Mann verloren bei dem Versuch, die Stadt zu stürmen. Längst wurden die Eltern nicht mehr vom Tod ihrer Söhne informiert. Bei Nachfragen hieß es nur lapidar: „Ihr Sohn kämpft an der Front und wird sich demnächst bei Ihnen melden.“ Aus Belgrad wird ein Fall berichtet, wo der desertierte Sohn bei seiner Familie Unterschlupf gefunden hatte und die Eltern sich zur Täuschung der Behörden anschließend hartnäckig nach seinem Verbleib informierten. Sie erhielten genau die beschriebene stereotype Antwort. Ursprünglich wurden die Angriffe auf Vukovar von serbischen Reservisten vorgetragen. Als sich die Desertionen häuften, ging man dazu über, für den Häuserkampf spezialisierte Einheiten an die Front zu ziehen. Ein Bataillon dieser Spezialisten traf vor einer Woche in Vukovar ein und hat jetzt die Entscheidung erzwungen.
Bis zum Ende verharrten in den Ruinen der Stadt 12.000 Menschen, darunter 2.000 Kinder, deren Evakuierung von den Eltern verhindert wurde. Die genaue Zahl der Verteidiger ist unbekannt, sicher sind es nicht mehr als 3.000. Sie hielten oft tagelang in ihren Kellerstellungen aus, um mit Panzerfäusten, Granatwerfern und Maschinengewehren die zahlenmäßig weit überlegenen Invasoren außer Gefecht zu setzen. Gefangene wurden auf beiden Seiten nicht mehr gemacht. Die kroatischen Verteidiger tauschten von Zeit zu Zeit Lebensmittel gegen die Leichen serbischer Soldaten.
Verbindung abgebrochen
Längst war die Versorgung der Stadt zusammengebrochen. Alle Straßen waren blockiert oder vermint. Die Donau wurde acht Kilometer nördlich der Stadt gesperrt, so daß Versorgungschiffe aus anderen Ländern Vukovar nicht mehr erreichen konnten. Dieses Vorgehen verletzte internationale Verträge über die freie Donau-Schiffahrt, aber solche Kleinigkeiten werden in der Weltöffentlichkeit schon nicht mehr wahrgenommen. Ab und zu gelang es Bewohnern der Stadt, auf Trampelpfaden in eines der umliegenden, noch von Kroatien kontrollierten Dörfer oder nach Osijek durchzukommen, sich mit Lebensmitteln zu versorgen und dann zurückzukehren. Eine andere Quelle gab es nicht mehr.
Die Verbindung der Verteidiger von Vukovar zum Kommando in Zagreb war unterbrochen. Der erste Stadtkommandant Bosniakowicz — übrigens ein Serbe wie viele andere Verteidiger der Stadt — fühlte sich vom kroatischen Präsidenten Tudjman verraten. Der Nachschub aus Zagreb war versiegt, neue Truppen konnten sich nicht mehr in die Stadt durchschlagen — wenn man von der rechtsradikalen Kampftruppe der „Hos“ mal absieht. Aber deren Zahl beträgt entgegen verbreiteten Schätzungen in Vukovar nur etwa 300.
Militärisch ist die Eroberung von Vukovar für die Serben nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Mit weit geringeren Verlusten wäre es ihnen möglich gewesen, entlang der Sava in Richtung Mittelslawonien vorzustoßen und damit ihrem Ziel, der Zerstückelung Kroatiens, näherzukommen.
Aber Menschenleben spielten keine Rolle in diesem Kampf der Symbole. Hinzu kam, daß die serbisch-jugoslawische Armee unter Zeitdruck stand und steht. Wenn der Winter hereinbricht, können die Panzer das dann morastige Gelände der Donau-Niederungen nicht mehr passieren. Die Belagerung der Stadt hätte in dem Fall aufgegeben werden, jeder Gedanke an Vukovar als der künftigen Hauptstadt eines serbischen Slawonien von der Donau bis nach Vorovitnica hätte dann begraben werden müssen.
„Wehe den Besiegten!“
Aber was für eine Stadt wird den Serben in die Hand fallen? Vukovar war einst eine schöne Stadt mit 50.000 Einwohnern, 34 Prozent von ihnen Serben, 43 Prozent Kroaten, ein regionales Zentrum von Landwirtschaft und Industrie. Davon ist ebensowenig geblieben wie von der habsburgisch-neobarocken Architektur des 19. Jahrhunderts, die die Stadt prägte. Alle Kulturdenkmäler sind in Schutt und Asche, wie übrigens auch das Haus, in dem 1920 jene Partei gegründet wurde, die die Hauptverantwortung für die heutige Katastrophe trägt: die Kommunistische Partei Jugoslawiens.
Noch wird in Vukovar gekämpft. Die serbischen Tschetniks, die blutige Rache an den kroatischen Hos- Verbänden nehmen wollen, sitzen ihnen im Nacken. Zu befürchten ist deshalb ein Massaker durch die serbischen Freischärler, das auch die zivile Bevölkerung nicht verschonen wird, getreu der Devise: „Wehe den Besiegten!“ Christian Semler
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