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Cetniks im Siegesrausch

In Vukovar versuchen Armee-Einheiten, die überlebende Bevölkerung in Sicherheit zu bringen  ■ Aus Vukovar Ian Traynor

Ein serbischer Freischärler, trunken vom Sieg und einer Flasche Rum, fuchtelt mit einer israelischen „Uzi“- Maschinenpistole herum und schreit: „Ich will diesen Kerl töten, aber die Armee läßt uns nicht!“ Gemeint ist ein junger Kroate, der sich den schmerzenden Hinterkopf hält, wo ihn ein Schlag mit dem Gewehrkolben getroffen hat. Er steht mit ausgebreiteten Armen auf einer mit Trümmern übersäten Straße, wo die Serben, die alle ein Band mit der Aufschrift „Vukovar ‘91“ um den Helm gebunden haben, ihn nach Waffen untersuchen. Sie finden keine. Trotzdem darf er nicht gehen. Die Serben, blutdürstig und bis an die Zähne bewaffnet, drängen ihn in einen Hof. Wären nicht andere Menschen hinzugekommen, hätte er wohl sterben müssen. Aber die einzige Frau unter den Freischärlern warnt ihre Kameraden: „Tut es nicht, da sind ein paar Journalisten.“

Beobachter der Szene sind ein paar alte Bauern, die inmitten von Trümmern auf hölzernen Eßzimmerstühlen sitzen. Wie mehrere tausend andere in der Donaustadt haben sie sich nach mehr als drei Monaten aus den Kellern herausgewagt. „Wir hatten Angst, sie würden uns mißhandeln, aber die Armee behandelt uns gut“, weint der 60jährige Kroate Petar Kalina und versucht, seine Frau Teresa, eine Ungarin, zu trösten. „Es war schrecklich. Wir haben von Brot, Speck und Konserven gelebt. Das größte Problem war das Wasser.“ Minuten später fahren einige Armee-Lkws vor. Die Alten werden auf die Ladefläche verfrachtet und am Stadtrand von Vukovar in Sicherheit gebracht.

Lastwagen für Flüchtlinge

Wie aus dem Nichts taucht auf einmal ein älteres Paar in den Trümmern auf. Sie hat in einer Plastiktüte die letzte Habe, er hält einen Stock mit einem weißen Tuch nach oben. Auch sie wollen mit dem Armeelastwagen eine sichere Zuflucht erreichen. Auf der Flucht vor dem Inferno ziehen in langen Schlangen Alte und Junge, Männer und Frauen, die zermürbt, verängstigt und verwirrt erscheinen, an qualmenden Ruinen vorbei. Unterdessen preschen Banden von jungen serbischen Freischärlern mit roten Vespa-Rollern und Rädern durch die Stadt und schwelgen im Eroberungsrausch, weil sie die „faschistische Ustascha“ der Kroaten besiegt haben.

Einst war Vukovar eine schmucke Provinzstadt mit österreichisch-ungarischen Wurzeln an der Grenze zwischen Serbien und Kroatien mit mehr als 40.000 Einwohnern, Kroaten, Serben, Ungarn, Slowaken, Tschechen, Ukrainern und anderen. Heute ist die Stadt total zerstört. Es gibt offenbar kein einziges Gebäude, das nicht irreparabel beschädigt ist. Von den Dächern sind bestenfalls verkohlte Balken übrig. In den Straßen liegen Leichen, zum Teil mit Decken bedeckt. Es gibt praktisch nicht einen einzigen Quadratmeter in Vukovar, der nicht von Bomben, Granaten oder Gewehrkugeln getroffen worden ist — ob es sich nun um Gebäude, Bäume, Fahrzeuge, Verkehrszeichen oder Straßen handelt.

5.000 Schwerverletzte

Ungeachtet einiger kroatischer Heckenschützen kontrolliert die Armee die Stadt offenbar vollständig. Das Krankenhaus am Donau-Ufer war einer der letzten Punkte, zu dem die Serben zunächst noch keinen Zugang hatten. Als der UNO-Sondergesandte Cyrus Vance am Dienstag Vukovar besuchte, klagte er, ihm würde der Zutritt zum Krankenhaus verweigert. In dessen Kellern sollten sich zu diesem Zeitpunkt schätzungsweise 4.000 bis 5.000 Schwerverletzte befinden. Bis zum Dienstag nachmittag war die Armee bis auf das Krankenhausgelände vorgedrungen, wo Personal und rund 1.000 Zivilisten Zuflucht gesucht hatten. Anschließend wurden mit Lkws Hunderte von Frauen und Kindern in ein Landwirtschaftsmaschinendepot am Stadtrand evakuiert, darunter die Kroatin Mlinaric Milka mit ihrer neunjährigen Tochter Anita und einem kleinen Hund. Ihren Ehemann hatte sie seit Tagen nicht mehr gesehen. Warum Vukovar zerstört worden ist, kann sie sich nicht vorstellen. Genausowenig will sie sich darum sorgen, ob dies ein großer Verlust für Kroatien sei. „Fragen Sie die Regierung“, meint sie achselzuckend.

Ihr gegenüber stehen die vier Generationen einer serbischen Familie — von der 72jährigen Urgroßmutter bis zum 18 Monate alten Alexander, den seine Mutter Levica auf dem Arm trägt. Ihr kroatischer Ehemann hat sich seinen Landsleuten angeschlossen. Wohin sie jetzt gehen sollen, wissen sie nicht. Über die Belagerung berichtet Levica: „Die kroatischen Gardisten hatten gedroht, uns zu massakrieren. Nur im Dunkeln haben wir manchmal versucht, draußen etwas Wasser zu holen.“ Während sich die Lkws aufreihen, um die Überlebenden zum Stadtrand zu bringen, wartet dort bereits eine Kolonne von Armee-Bulldozern, um die Ruinen niederzuwalzen.

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