piwik no script img

Mit der Wahrheit nimmt es niemand genau

Die Kriegsgreuel während der Kämpfe in Vukovar sind zum Bestandteil der Kriegspropaganda auf beiden Seiten, in Kroatien und in Serbien, geworden/ Das Leiden der Bevölkerung Vukovars ist erschütternd, viele Verletzte und Kranke kamen um  ■ Aus Osijek Roland Hofwiler

Um Geschichten über Kriegsgreuel in die Presse zu bringen, braucht man offenbar lediglich eine blühende Phantasie, aber keinerlei Beweise. Keine serbische Zeitung ließ sich gestern die Story eines recht unbekannten Fotografen nehmen, der doch gesehen haben will, wie kroatische Nationalgardisten nach ihrer Kapitulation in Vukovar in der nahegelegenen Gemeinde Borovo Naselje Anfang der Woche ein Massaker an serbischen Schulkindern angerichtet hätten. Er konnte die Toten sogar zählen. 41 Kinder wurden mit Messern und Äxten zerstückelt. Grauenvoll, so der Fotoreporter Milan, der ausschweifend über zerhackte Schädel und andere Gliedmaßen zu erzählen weiß. Nur eines kann der Serbe nicht: Bilder als Beweise vorlegen. Man habe ihn am Fotografieren gehindert, so seine Entschuldigung. Ein Detail, das für die serbischen Medien jedoch nicht von Belang zu sein scheint. Man nimmt die Geschichte auch so als bare Münze.

Die kroatische Regierung hat eine internationale Untersuchung zu dem angeblichen Blutbad an den 41 Kindern gefordert. Kroatien verlange eine Untersuchung des Internationalen Roten Kreuzes, der Europäischen Gemeinschaft oder anderer Gruppen, um herauszufinden, was tatsächlich dort und in Vukovar geschehen sei, sagte der kroatische Informationsminister Branko Salaj am Mittwoch abend. Dies sei beispielsweise dadurch möglich, daß geprüft werde, ob es sich bei den Toten um Serben oder Kroaten handele. Es gehöre zur serbischen Propaganda, eigene Verbrechen den Kroaten anzuhängen. Die kroatische Seite habe selbst keinen Zugang zu dem Gebiet. Deshalb lägen ihr auch keine Informationen über den Vorfall vor.

Doch nicht nur in diesem Fall springen die serbischen Medien leichtfertig mit Informationen um. Rund um die Uhr strahlen sowohl Belgrad als auch Zagreb Greuelberichte aus. Denn auch in Kroatien funktioniert der Mechanismus ähnlich. Jeder, der meint, er habe etwas zu enthüllen, kann sich in den elektronischen Medien auch anonym und ohne sein Gesicht kenntlich zu zeigen, zu Wort melden. Das Ergebnis: Horrorberichte am laufenden Band. Da weiß ein Bauer von Erhängten zu berichten, eine Frau von Massenvergewaltigungen, ein Mädchen von einer Vergiftungsaktion des Trinkwassers. Doch diese Erzählungen sind niemals detailliert genug, daß sie nachprüfbar wären.

Dabei ist es nicht nur Belgrad, das angebliche Greuel der „kroatischen Faschisten“ aufdeckt. Auch Zagreb ist schnell mit Anschuldigungen zur Stelle. Denn während man in der kroatischen Hauptstadt glaubt, Europa habe einen in den letzten Monaten im Stich gelassen, so glauben die Überlebenden von Vukovar und Ostslawonien, Kroatien habe sie vergessen. Diese Anschuldigungen versucht das offizielle Zagreb mit Gegenpropaganda zu zerstreuen. Die Bundesarmee habe Phosphorbomben und andere chemische Gifte zur Eroberung von Vukovar eingesetzt — und dagegen sei man als Verteidiger wehrlos gewesen. Die serbischen Freischärler hätten in einem Ausmaß und mit einer Brutalität geplündert, geschändet und gemordet, wie man es sich nicht vorstellen könnte. Nur deshalb sei Vukovar gefallen. Aber man habe daraus gelernt, so ein Kommentator des kroatischen Fernsehens: „Diese Greuel werden sich nicht wiederholen.“ Woher der Journalist seine Zuversicht nimmt, weiß niemand. Denn in einem nachfolgenden Report wird diese — sollten die Anschuldigungen wahr sein — gleich wieder in Frage gestellt. Da behauptet das Fernsehen doch tatsächlich, in den letzten Tagen seien zweimal aus Warteschlangen Menschen, die auf ihren Abtransport aus Vukovar warteten, von Soldaten der Bundesarmee herausgeholt und vor den Augen der anderen erschossen worden. Bilddokumente werden aber nicht mitgeliefert. Man fragt sich, wer braucht diese Greuelgeschichten? Sind Tausende Tote nicht schon genug?

Kommandant verhaftet

Der Kommandant der Verteidigung von Vukovar, Oberstleutnant Mile Dedakovic, ist am Mittwoch in Zagreb festgenommen worden. Der Offizier, der am Samstag seines Postens enthoben worden war, ist von etwa 50 Männern in Uniformen der kroatischen Militärpolizei umringt worden, als er in der Nähe seines Hauses aus seinem Auto steigen wollte. Dedakovic hatte dem kroatischen Generalstab vorgeworfen, Vukovar im Stich gelassen zu haben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen