: Das wilde Nachtleben in Königs Wusterhausen
■ Es wird russisch, deutsch und bulgarisch gesprochen/ Hin und wieder steigt Nebel an den Tanzbeinen hoch/ Striptease — Single, Paar, Gruppen, nur Männer, nur Frauen oder gemischt, je nachdem/ Der Türsteher legt sich auf ein Nagelbrett
Königs Wusterhausen genießt das Privileg, allabendlich auf der Wetterkarte der Berliner Abendschau zu erscheinen. Zu Recht, gibt es dort besonders am Wochenende allerlei Interessantes zu sehen und zu beobachten. Angefangen bei eigenwillig interpretierten, christlichen Ritualen, wie sie in der etwa 1.000 Seelen zählenden protestantischen Gemeinde von 'KW‘ praktiziert werden. Beispielsweise das Erntedankfest: Am Vorabend des Feiertages bringen die Gläubigen allein oder paarweise dem Herrn ihre symbolischen Opfergaben dar.
Kindskopfgroße Kohlrabis, Jacobs-Kaffee, Grand-Prix-Kekse, Multivitaminsaft und Heringsfilet in Tomatensauce zieren dann den prunkvollen Altartisch.
Andere, eher weltlich orientierte Einwohner, lassen den Fußballnachmittag im »U-Boot« ausklingen. Demnächst wird die gemütliche Souterrain-Bar zum Spott der Nachbarschaft nach dem »Goldenen Adler« umbenannt, der vom Kachelofen aus die Gäste am »Stammtisch-lebenslänglich« beobachtet. Samstags muß hier bis 19 Uhr das Bier oder der »Pfeffi« getrunken sein. Dieser Minzlikör (0,4 cl für 2.08 Mark) paßt ganz hervorragend zu dem rosa Pullover seiner munter über Ehe-Interna plaudernden Trinkerin. Mit solch romantischen Szenen im Kopf schieben die meisten erholungssuchenden Charlottenburger ihre Mountainbikes bei Einbruch der Dunkelheit in die S-Bahn und verpassen ein wildes Nachtleben, das man zugegebenerweise tagsüber in KW nicht ohne weiteres vermuten würde.
Nicht ganz verheilte Narben unter den Augen
Die DAB-Klause liegt versteckt auf sowjetischem Territorium im Ortsteil Zeesen, gleich hinter der PROGRESS-Kaserne. Ein echt multikultureller Treff, es wird russisch, deutsch und bulgarisch gesprochen, die Themenwahl aber ist überaus heikel. Das verraten einige nicht ganz verheilte Narben unter den Augen der anwesenden Gäste und mehrere rechte Arme in Gips. Der Wirt verbietet einem Ex-NVA-Mann in unserer Anwesenheit darüber nachzusinnen, wie man Kohl nach Lenins Revolutionstheorie stürzen könnte: »Den Volksunmut ventilieren und lenken...« Als Zeichen dafür, daß der Barkeeper sauer ist, stellt er wortlos eine Flasche Zitronensaftkonzentrat auf den Tisch. Daraufhin winkt Victor, der charmante Lokalbesitzer, unseren zweiten Gesprächspartner vor die Tür und hebt dort mehrmals drohend den Zeigefinger. Micha war gerade dabei, uns von der Schlägerei am Himmelfahrtstag zu erzählen, als die Glatzen von den sowjetischen Soldaten fertiggemacht worden seien. Auf rechtsradikale Gäste legt man im ehemaligen sowjetischen Kulturhaus eben keinen Wert. Sobald der außenstehende Besucher für dieses nur auf den ersten Blick verwirrende Verhalten Verständnis signalisiert, schlägt das anfängliche Mißtrauen in eine Herzlichkeit um, die den Abschied schwerfallen läßt. Doch die DAB-Klause wird um Mitternacht geschlossen, und Victor selbst weist seinen Gästen den Weg über die düsteren Bahngleise in die Discos im Neubaugebiet.
Schon von Ferne erstrahlt im ehemaligen Jugendklub, der heute »Cactus-Box« heißt, eine violett beleuchtete Savannenlandschaft im Schaufenster. Dorthin geht der Toilettenmann vom »Märkischen Viertel« samstags nachts in regelmäßigen Abständen mit seinem treuen Freund »Charly« Gassi. »Dat is' so schön! Ich finde, Kakteen sind die allerschönsten Blumen«, murmelt der ergraute Herr ganz in den Anblick versunken und scheint in seinem weißen Kittel kaum zu bemerken, wie kalt es schon ist.
Die Jungen halten den Mädchen die Augen zu
Der »Märkische Hof« liegt kaum 100 Meter entfernt. Hier pflegen die 30jährigen den Paartanz zu Udo-Lindenberg-Songs. Wer von den Männern etwas auf sich hält, trägt dünne Lederschlipse, die Frauen bevorzugen Enganliegendes in Schwarz- Weiß. Hin und wieder steigt Nebel an den Tanzbeinen hoch. So präsentiert sich das Ambiente im »Märkischen Hof« eigentlich recht einladend, doch uns vergraulten ziemlich rasch zwei Neonazis mit spontan-bierseelig geäußerten Sprüchen über »ein paar zu Seife verarbeiteten Juden«, über das »ausländerverseuchte Deutschland« und zu verprügelnde Journalisten... Im »Six«, einer Riesen-Disco direkt am Bahnhof, erledigt DJ Guido die ausländerfeindliche Nummer ganz locker vom Mikro aus. »Warum haben 76 Prozent der deutschen Frauen Hängebusen? Wegen der Kleinheit der Gastarbeiter!« Zwischen überdimensionalen Westreklamen, einer Videowand und unter einem Pappmaché-Elefantenkopf tobt hier bis in die Morgenstunden das pralle Leben. Gar nicht provinziell aussehende Jugendliche aus dem ganzen Umkreis amüsieren sich prächtig, fangen zwischendurch West-T-Shirts und West-LPs auf, die die blonde West-Conny und die blonde West-Nicola ins Volk werfen. Zum regulären Programm gehört auch der Striptease auf der Bühne: Single, Paar, Gruppen, nur Männer, nur Frauen oder gemischt, je nachdem. Aus Spaß halten einige Heranwachsende während der Entkleidungsshows ihren Freundinnen die Augen zu. Wohl wegen des dadurch hergestellten Körperkontakts protestieren die Frauen nicht. Vielleicht aber auch, weil sie sich langweilen.
Die Modelle waren schon mal professioneller
Auf die Frage, wie sie Striptease in der Disco fänden, antworten zwei 17jährige: Vor ein paar Wochen wären bessere, professionellere Models da gewesen. An besonderen Abenden, wie Silvester oder zum Disco- Jubiläum, legt sich einer der zehn Türsteher vom »Six« auf ein Nagelbrett und deckt sich mit einer 80 Kilogramm schweren Betonplatte zu, die die Besucher mit dem Vorschlaghammer zerstören dürfen. »'n bißchen pervers muß man schon sein!« erklärt der bodygebildete Fakir und kramt zum Abschied beiläufig unter seinem T-Shirt viereckige Brustmuskeln hervor. Dorothee Wenner
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