: Sich leise der Vergangenheit nähern
Im brandenburgischen Bildungsministerium gibt es ein „Referat für Vergangenheitsaufarbeitung“/ Bildungsministerin will sich nicht auf die Regelüberprüfung von Lehrern durch die Gauck-Behörde verlassen ■ Von Annette Rogalla
Helmut Haberlandt ist weder groß noch klein, weder dick noch dünn. Ein Mann im mittleren Alter, graues Hemd, rostroter Schlips. Vielleicht ist er etwas umständlich in seiner Art. Wie sorgsam er die Pfeife stopft, exakt zwei Streichhölzer abbrennt, um den Tabak gleichmäßig zu entzünden. Während der ganzen Prozedur spricht er kein Wort. So konzentriert könnte sich Dr. Haberlandt, Physiker und Grundlagenforscher, in seinem Labor bewegt haben, das Anfang des Jahres abgewickelt wurde.
Die Visitenkarte weist ihn als Mitarbeiter des Bildungsministeriums von Brandenburg aus. „Referat für Vergangenheitsaufarbeitung / Förderung demokratischer Kultur“ steht darauf. Ein sperriger Name für das Zwei-Personen-Büro. Aber weder Haberlandt noch seiner Chefin, Ministerin Marianne Birthler vom Bündnis 90, fiel eine andere Bezeichnung ein. Schließlich handelt es sich um eine höchst ungewöhnliche Aufgabenstellung, bislang einzigartig in den neuen Bundesländern, von den alten ganz zu schweigen.
Glaubwürdig sollen die 1.000 brandenburgischen Schulen werden. Eine große Aufgabe, bei der sich die Bildungsministerin nicht alleine auf die Ergebnisse der Regelüberprüfungen bei der Gauck-Behörde und die alten Kaderakten verlassen will. Zwar filtern die Personalkommissionen diejenigen Lehrer und Lehrerinnen heraus, die sich offensichtlich und zudem aktenkundig vom Parteibuch in den Klassen haben bestimmen lassen. Aber wie viele von den 34.000 Lehrern und Lehrerinnen Brandenburgs danach ihren Beruf aufgeben müssen, ist ungewiß. Im Ministerium macht die Schätzzahl von 1 bis 2 pro Schule die Runde; eine relative Größe, zumal noch nicht einmal alle Anfragen an die Gauck-Behörde abgeschickt wurden. Noch weit bis ins kommende Jahr werden sich die Entlassungsverfahren hineinziehen. Aber einen Schlußstrich unter 40 Jahre DDR-Volksbildung will Ministerin Birthler damit nicht ziehen. Zumal die vielen tausend Mitläufer, diejenigen, die gearbeitet und geschwiegen haben, über die Personalkommissionen nicht herausgefunden und befragt werden können. „Wir können die Aufarbeitung der Vergangenheit doch nicht per Ministererlaß beschließen“, sagt Referent Haberlandt.
Lehrer in der DDR war kein Beruf, sondern eine Diagnose, behauptet der Hallenser Psychologe Hans Joachim Maaz. Die DDR-Schulen seien die Zuchtanstalten der Nation gewesen. Dem widerspricht Vergangenheits-Referent Haberlandt nicht, doch summarische Verurteilungen lehnt er ab. Keine Pauschalurteile bitte. Und: Nicht die Lehrer allein tragen Schuld am sozialistischen Untertan. „Jeder, der in der DDR gelebt hat, muß sich fragen lassen, wie er durch Anpassung oder durch Schweigen zur Stabilisierung und zum Funktionieren des Systems beigetragen hat.“ Dogmen seien den Lehrern als Wahrheiten verkauft worden. Warum die meisten daran felsenfest geglaubt haben, beschäftigt ihn sehr. Das können doch nicht alles nur 150prozentige Parteikader oder charakterschwache Menschen gewesen sein. Sein Programm: „Geschichte und Funktion der DDR- Volksbildung erforschen und den Lehrern, Eltern und Schülern zugänglich machen. Wie konnte zum Beispiel die vormilitärische Schulerziehung en détail funktionieren? Oral History sozusagen, von der Kirche über die FDJ bis zur SED. Die Zeit drängt: „Viele Fragen werden durch hektische Aktivitäten verschüttet. Dabei denken wir, daß wir in die Zukunft blicken, aber wenn wir die Vergangenheit unaufgearbeitet zurücklassen, werden uns die Utopien verlassen.“
Für Forschungen und Veröffentlichungen aber bräuchte Haberlandt Geld. Bislang wirkt Haberlandt dezent im Hintergrund, hilft dem Personalreferat des Bildungsministeriums bei Anfragen an die Gauck-Behörde, Schulräte lassen sich von ihm bei Personalentscheidungen beraten, und beim Erarbeiten der Rahmenpläne für den Unterricht wird er hinzugezogen. Aber entscheiden kann der Referent für Vergangenheitsaufarbeitung nichts. Vielfach schlägt ihm eine große Skepsis entgegen. Nicht wenige Schulleiter und Lehrer vermuten in seinem Referat eine Anlaufstelle für Denunzianten — gleichzeitig beschweren sich aber Eltern immer wieder über noch existierende SED-Seilschaften. Die jetzt herrschende Bürokratie, die rechtsstaatliche, wird mißtrauisch beäugt. Woher soll er kommen, der Glaube an Gerechtigkeit? Da rollt der Referent beinahe verzweifelt die Augen. „Ich kann nur immer wieder sagen: Wenn ihr nicht einsteht, euch nicht zu Wort meldet, wenn ihr nicht redet, dann wird das so sein, dann werden die Seilschaften bleiben.“
Manchmal wird Haberlandt zu Diskussionsveranstaltungen mit Lehrern eingeladen. Dann beginnen zaghafte Annäherungen, werden Fragen gestellt. Aber kontroverse Diskussionen hat er da noch nicht erlebt. Nur neulich, bei einer Veranstaltung der Evangelischen Akademie, sei er mit einer Gruppe christlicher Erzieher und Lehrer ins Nachdenken geraten, allerdings erst, als man sich in Kleingruppen zurückgezogen hatte. „Aber die hatten bereits in der Einladung so etwas wie ein kollektives Schuldbekenntnis formuliert.“
Lehrern fällt es schwer, persönliche Verantwortung zu übernehmen. Noch häufig spielt die „kollektive Nestwärme“ eine Rolle. Früher wurden sie danach beurteilt, wie sehr sie sich ins „Kollektiv“ einordnen konnten. Heute sollen sie Verantwortung dafür übernehmen, daß sie ihre Individualität aufgaben zugunsten eines fragwürdigen Ideals, das auf Druck und Anpassung basierte. Nicht selten kam es vor, daß Lehrer die Schüler politisch drangsalierten. Beispiel: die Ernst-Thälmann-Schule in Falkensee. Der Ort liegt nur einen Steinwurf von Berlin entfernt, dicht an der alten Bundesstraße5 nach Hamburg. Noch im Herbst brandmarkte die damalige Schulleiterin einen Schüler als „Klassenfeind“, weil er mit einem Bundeswehrparka zur Schule kam. Kurzerhand riß sie ihm den Parka vom Leib.
Die Szene war kein Einzelfall. Damals schwiegen alle, und auch heute regt sich im nachhinein niemand öffentlich darüber auf. Von Amts wegen werden solche Vorfälle nicht untersucht. Mittlerweile hat die Schulleitung gewechselt, ist aus der ehemaligen Oberschule eine Grundschule geworden. Das Kollegium wurde nur teilweise ausgetauscht. Sie wissen, daß die Schule als tiefrot in die Stadtchronik eingehen wird. Die Personalüberprüfungen finden sie „voll richtig. Da stehen wir dahinter.“ Ihr 17köpfiges Kollegium nennen sie „eine eingeschworene Gemeinschaft“. Reden sie manchmal über die Zeit vor der Wende, denken sie, manchmal etwas falsch gemacht zu haben? „Wieso falsch, ich habe Sport unterrichtet, da war nichts falsch zu machen.“ Eine andere: „Das schönste für mich war immer der Unterricht. Wir haben gut gearbeitet.“ Ob sie sich unter einem „ministeriellen Referat für Vergangenheitsaufarbeitung“ etwas vorstellen kann? „Hab' ich mich noch nicht mit vertraut gemacht. Aber wissen Se. Wir haben uns nichts vorzuwerfen. Egal wie es war. Fakt ist doch, daß wir den Kinder Lesen, Rechnen und Schreiben beigebracht haben. Mehr nicht.“
Das Selbstbewußtsein der Lehrer ist brüchig. Solange sie sich ihrer Arbeitsplätze nicht sicher sind, schweigen die meisten. Im Lehrerzimmer der Falkenseer Grundschule entsteht eine merkwürdige Melange aus Unsicherheit und Verdrängung. Dagegen setzt die neue Schulleiterin Regina Elzholz, 32, die von sich sagt, durch ihr Schweigen zur „Mitläuferin“ geworden zu sein, kleine gruppendynamische Aktionen. Gemeinsam bemalen Lehrer und Kinder die grauen Schulflure. Jetzt schleichen die Panzerknacker überlebensgroß umher, und Pippi Langstrumpf steht auf allen Etagen auf dem Kopf. „Malen fördert nicht nur die Kreativität“, sagt Regina Elzholz, „sondern bringt auch das Unbewußte an den Tag.“
Soll es weiterhin Schulessen geben? Sollen Gardinen an die Fensterscheiben? Lohnt die Anschaffung eines Milchautomaten? Und seien die Fragen noch so klein: Regina Elzholz stellt jede Entscheidung in der Ernst-Thälmann-Schule zur Debatte. Alle reden über alles. Fein säuberlich notieren Schüler die Zwischenergebnisse der Diskussionen auf und kleben sie zur Wandzeitung zusammen. Regina Elzholz wartet nicht auf ministerielle Anleitungen zur Aufarbeitung der Vergangenheit. Sie ist zuversichtlich, über den Weg der kleinen Schritte an die schwarzen Flecken der Vergangenheit auf ihrer und ihrer Kollegen Seelen heranzukommen.
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