: Vom Subjekt zum Projekt
■ Perspektiven der telematischen Gesellschaft/ Ein Referat, das Vilèm Flusser als Diskussionsgrundlage für die Münchner Medientage '91 vorbereitet hat
Jedesmal, wenn von Perspektiven die Rede ist, muß mit einem Scheitern des Vorausgesehenen gerechnet werden. Im Fall der Perspektive einer telematischen Gesellschaft ist diese Möglichkeit des Scheiterns besonders dramatisch. Wir haben gegenwärtig die technischen, intellektuellen und ästhetischen Voraussetzungen für eine Umgestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen, die eine menschenwürdigere Daseinsform versprechen. Das ist der Grund, warum es so begeisternd ist, hier und jetzt zu leben. Aber es ist beinahe sicher, daß man uns nicht gestatten wird, dieses begeisternde Projekt in die Wirklichkeit zu setzen. Die steinewerfende und messerwetzende Jugend der Dritten Welt (Trombadinas) und der ideologievernebelte Teil der Jugend der Ersten und Zweiten Welt (Skin Heads und Nationalisten) wird dies verhüten. Und das Tragische an der Sache ist, daß dabei die uns frustrierende Jugend, von ihrem Standpunkt aus, im Recht ist. Die Sache sieht nämlich so aus: Seit sich der Strom der Information umgewand[elt] hat, so daß diese als Zeitungen, Postpakete, Radio- und Fernsehsendungen und Terminale zum Benutzer fließen, anstatt daß dieser in den öffentlichen Raum, in Schule, Laden, Theater oder Kirche gehen muß, um sie zu erwerben, seither wird ersichtlich, daß die gesamte Gesellschaftsstruktur umzubauen ist, um dem neuen Kommunikationssystem zu entsprechen. Wir sind geradezu gezwungen, die alten Stukturen wie Familie, Beruf oder Staat zugunsten neuer, erst zu bedenkender und auszuarbeitender, aufzugeben. Diese neuen Strukturen beginnen sich aus dem Nebel der künftigen Möglichkeiten herauszukristallisieren. Das Wichtige und Begeisternde daran ist, das allen diesen zukünftigen Strukturen gemein ist, daß sie von ihren Teilnehmern die entsprechende Kompetenz verlangen. Wenn nämlich der Informationsfluß an den Empfänger herankommt, dann muß dieser dafür die Verantwortung übernehmen. Er kann nicht mehr wie früher an eine Autorität am öffentlichen Raum, an einen sich dort befindenden Sender wie etwa Staat, Kirche, Partei oder Gericht appellieren. Er muß sich mit anderen Informationsempfängern, dank reversiblen Kabeln, vernetzen, um gemeinsam mit ihnen autoritätsfrei seinem Leben Sinn zu verleihen.
Zum Beispiel: Er kann nicht mehr auf dem Arbeitsmarkt nach offenen Stellen suchen und dabei irgendeiner ihm unzugänglichen Autorität eines Funktionärs unterworfen sein. Sondern er muß im Wetteifer mit anderen seine Kompetenz für die abgesehene Arbeit erwerben. Er kann nicht mehr, wenn er seiner Frau ein Kind macht, auf irgendeine kirchliche oder soziale Autorität vertrauen, die die Verantwortung für das Betreuen und Erziehen dieses Kindes übernimmt und ihm sein Verhalten vorschreibt. Sondern er muß, da er durch den Informationsfluß auf seine eigenen Füße gestellt ist, gemeinsam mit seiner Frau und gemeinsam mit seinen ihn anerkennenden und von ihm anerkannten Mitmenschen die Kompetenz für das Vater-Sein ständig erweitern. Man sage nicht, dies sei schon immer, zumindest als Ideal, in der Gesellschaft vorgesehen gewesen. Denn erst seit sich der Informationsfluß umgedreht hat, erst seit der Begriff der Autorität ausgehöhlt wurde, und erst seit wir über die technischen Mittel einer Vernetzung verfügen, kann so eine zwischenmenschliche, verantwortungsvolle Daseinsform überhaupt ins Auge gefaßt werden. Und daher wird der Akzent des Lebens in der telematischen Gesellschaft auf dem Erwerb von Kompetenzen liegen. Die telematische Gesellschaft wird eine Schule sein, in einem radikal neuen Sinn. Eine Schule nämlich, in der wir nicht nur Wissen und Wendigkeit, sondern auch eine Kultur des ethischen und ästhetischen Wertens lernen. Es wird eine Schule sein, wo nicht nur Hand, Auge und Gehirn, sondern auch Herz, also das, was einst Ehrlichkeit und Anständigkeit genannt wurde, von den Leuten erworben wird. Diese Utopie einer immer kompetenter werdenden und daher immer verantwortungsvolleren Gesellschaft ist in den gegenwärtigen Apparaten und Schaltplänen angelegt, und es sollte genügen, diese Anlagen zur Reife zu führen, um einer anständigen und schöpferischen Gesellschaftsform den Weg zu öffnen.
Das Charakteristische für all dies ist, daß sich die bisherige Existenzstellung ebenso umdrehen wird, wie dies beim Informationsfluß der Fall war. Bisher sind wir Subjekte einer objektiven Welt. Das heißt Untertanen von Gegenständen. Dank der Umschaltung der Gesellschaft in schöpferische Netze werden wir zu Projekten von alternativen Objektivitäten. Zu Entwerfern von noch nie dagewesenen, uns nicht mehr bedingenden, sondern bezeugenden Gegenständen. Wir werden nicht nur einander anerkennen, sondern ebenso gemeinsam eine alternative Welt entwerfen, um in einem neuen und volleren Sinne Mensch zu werden.
Doch es wird nicht dazu kommen. Denn die von Elend, Ungerechtigkeit und von Macht- und Geldgier unterdrückte und ausgebeutete Jugend, überall auf der Welt, kann weder die Geduld haben, unser Projekt abzuwarten, noch Vertrauen zu uns haben, daß wir in diesem Projekt vor allem tatsächlich sie meinen. Sie wird daher zu Recht, von außen und von unten, in unsere netzbildenden Projekte eingreifen, sie wie Spinnenweben durchreißen. Das also ist die Perspektive. Wollen wir, die wir hier vorläufig wohlbehütet beisammen sitzen, dies beides zugleich im Auge behalten? Nämlich, daß wir an der Schwelle einer völlig möglich gewordenen Utopie stehen, die wir mit dem etwas tolpatschigen Namen „telematische Gesellschaft“ bezeichnen, und daß diese beispiellose Gelegenheit vorbeigehen wird, wie so viele andere in Vergangenheit und Zukunft. Vilèm Flusser
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen