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Zurück in die graue Vorzeit

■ Dinosaurier und Steinzeitmenschen haben Hochkonjunktur. Man liebt sie und labt sich am Odem des Weltgeistes

Sie besaßen alle Voraussetzungen für eine spätere Medienkarriere: Ungewöhnlich gebaut waren sie, beeindruckende Erscheinungen, unangefochten beherrschten sie ihre Epoche. Sie liebten und sie fraßen sich, kein Zweifel, Einzelheiten ihres einstigen Privatlebens jedoch liegen immer noch in geheimnisvollem Dunkel. Vor allem aber ist ihr plötzliches Verschwinden nach wie vor äußerst mysteriös. Jede Menge Stoff für Gerüchte.

Dinosaurier. Seit der erste fossile Kiefer eines Morasaurus im Jahre 1770 in einem Kalkbruch bei Maastricht gefunden wurde, war den „schrecklichen Echsen“ das wissenschaftliche wie das öffentliche Interesse sicher. Die Riesenknochen boten jede Menge Stoff für abenteuerliche Vermutungen, und die Aufmerksamkeit erlahmte auch nicht, als die Forscher immer mehr Einzelheiten aus dem Saurier-Leben herausfanden. Im Gegenteil: In den letzten Jahren wuchs sich dieses Interesse zu wahrer Saurier-Begeisterung aus. Begeisterung, für die es Gründe geben muß.

Das Hessische Landesmuseum in Darmstadt präsentierte bis zum November „Dinosaurier aus China“, sieben vollständige Skelette, „Originale der Superlative“, in aller wissenschaftlichen Bescheidenheit, Tsintaosaurus und Shunosaurus etwa, ergänzt um lebensechte Modelle, Knochen zum Anfassen und Dinosaurier-Computerlernspiele.

In Berlin gab es die Ausstellung Die Dinosaurier sind zurück. Ein Panoptikum zwanzig brüllender, sich bewegender Nachbildungen der Firma „Dinamation“, die seit 1982 mit computergesteuerten Saurier- Attrappen durch die Welt tingelt. „Tyrannosaurus rex mit seinen fürchterlichen Reißzähnen, das größte fleischfressende Tier, das jemals auf unserem Planeten gelebt hat“, erwartete den Besucher. Oder, in aller wissenschaftlichen Zurückhaltung, „Deinonychus, auch die ,Schreckliche Kralle‘ genannt, wie er mit seiner Mörderkralle gerade beim Verspeisen eines Opfers zu sehen ist“.

Literatur überschwemmt den Markt, vor allem den für Kinderbücher. Zwar wurden schon seit 20 Jahren verstärkt englische Lizenzen angeboten, die große Saurier-Welle aber setzte erst 1989 ein, ausgelöst durch den Saurier-Boom in England und Amerika, wo man sich, so Sabine Zürn, Lektorin beim Ravensburger Buchverlag, „nach Technik, Tierenzyklopädien, Römern und Ägyptern wieder an die Saurier erinnert hatte“. Ravensburger hat in zweieinhalb Jahren 100.000 Exemplare von Das große Buch der Saurier verkauft, die Nachfrage ist weiter groß. Karl Müller in Erlangen hat drei Titel im Programm und weitere in Vorbereitung, der Schneider-Verlag in München zwei und Tesloff bietet deren vier.

Auch die Spielzeugbranche ist, nach Garfield und Alf, auf den Saurier gekommen. Die Bully GmbH vertreibt Stegosaurus auf Bleistiftspitzer, Brontosaurus in der Schneekugel, Ankylosaurus an der Schlüsselkette und Urzeitskelette zum Zusammenstecken, Pteranodon „de Luxe“ und Dimetrodon „Glows in the dark“. Firma Schleich aus Schwäbisch-Gmünd offeriert Saurier-Modelle, die in Zusammenarbeit mit dem Carnegie-Museum in Pittsburgh entstanden sind, „natur- und maßstabsgetreu“, wie ein beigefügtes Zertifikat versichert. Der Christophorus-Verlag in Freiburg schließlich bietet Broschüren samt Schnittmusterbögen zur heimischen Produktion von, in aller wissenschaftlichen Großzügigkeit, Kung- Fu-Saurier und Dinofant.

Da kommt vor allem Elternfreude auf

Wegbereiter und zugleich Nutznießer einer derartigen Verdichtung der öffentlichen Aufmerksamkeit sind und waren die Medien. Der 'Spiegel‘ lieferte seine Titelgeschichte schon 1987 ab, 'Natur‘ folgte im Mai 1991, 'Geo‘ widmet Titel und Titelgeschichte des August-Heftes sowie ein achtseitiges Panorama-Poster den, in aller wissenschaftlichen Nüchternheit, „Titanen der Vorzeit“.

Tyrannosaurus steht gut im Kurs. „In Wirklichkeit lieben wir alle die Dinosaurier“, schrieb Ray Bradbury 1981. In Wirklichkeit gibt es dafür keinen Grund. Warum sollten wir?

Ein Zeitgeist-Mysterium also? Oder nur eine der zahllosen saisonalen Offerten des Marktes für den Wunschzettel des Nachwuchses? Doch daß aus dem schnellen Aufflackern kindlicher Begeisterung ein anhaltendes Geschäft für Erwachsene wird, setzt voraus, daß Eltern dem Objekt kindlicher Begierde nicht ablehnend gegenüberstehen. Im Gegenteil: Ob Indianer, Ritter, Eisenbahn — Erfolg garantiert gerade, was dem Mann erlaubt, das Kind in ihm selbst mit dem eigenen Sohn zusammen zum Zug kommen zu lassen — womöglich unter dem Schild des „pädagogisch Wertvollen“. Da kommt Elternfreude auf, und eine flüchtige Illusion von Gemeinsamkeit.

Das bevorzugte Tummelfeld solcher gemeinsamer Streifzüge ist gegenwärtig die Vorzeit, die graue. Davon kriegen Kinder und Erwachsene nicht genug und letztere dann zusätzlich noch, diese Ungerechtigkeit hat nie ein Ende, ihre ganz eigene Erwachsenen-Version.

Von den Ayla-Romanen der Amerikanerin Jean Auel wurden weltweit mittlerweile mehr als 20 Millionen Exemplare verkauft. Die deutsche Ausgabe ihres letzten Werkes, Ayla und das Tal der großen Mutter, steht auf Platz 4 der 'Spiegel‘-Bestsellerliste. 80.000 Leserinnen und Leser erregen sich an den — bevorzugt sexuellen — Abenteuern der Steinzeit- Frau Ayla, einer „Mischung aus Popstar Madonna, Mutter Teresa und Florence Griffith Joyner“ (Thomas Schadt).

Ein Erfolg, der zweifellos auf den Ruf der Bücher als Softpornos zurückgeht, zu dem jedoch das Ambiente, in dem hier gelüstet wird, in hohem Maße beiträgt. Profunde Sachkenntnis der damaligen geographischen, klimatischen und kulturellen Verhältnisse zeichnen die Romane aus, Jean Auel beschreibe die Höhlen, die Jagdriten, die Mammuts und Steppen dieser Ära mit geradezu wissenschaftlicher Akribie, behauptet der Verlag. Ob zutreffend oder nicht: In den Augen ihrer Leserinnen und Leser gibt Jean Auel der grauen Vorzeit Farbe.

Natürlich fordert eine Epoche, aus der nur wenige Fakten als gesichert gelten können und deren Alltagsgeschehen weitgehend im dunkeln liegt, geradezu heraus, literarisch bevölkert zu werden. Oder auch cineastisch: In dem Film In einem Land vor unserer Zeit ließen die Walt-Disney-Studios ein gezeichnetes Dino-Rührstück spielen, in Am Anfang war das Feuer begab sich Jean-Jaques Annaud auf eine Reise durch die Steinzeit. In Baby tapst ein spätgeborenes Saurier-Junges durch die Gegenwart, und Steven Spielberg verfilmt im Augenblick Michael Crichtons Roman Dino Park, die Geschichte eines Tiergartens, in dem sich gentechnisch rekonstruierte Saurier tummeln — Musik in den Ohren aller kuriositätensüchtigen Zoodirektoren.

Die attraktiven Geheimnisse der Vorzeit

Heute, da der Planet bis ins Detail erforscht ist, birgt die Vorzeit einige der letzten für den Durchschnittsverstand attraktiven Geheimnisse — Geheimnisse, die einst Fleisch und Blut waren und also immer noch eher zu

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begreifen sein müssen als die High- Tech-Mirakel einer entmilitarisierten Zukunft. Selbst wenn sie nicht mehr endgültig zu entschlüsseln sind, so läßt sich doch damit spielen, und in der Tat sind die Vorzeit-Märchen nichts anderes als Science- fiction. Je weiter zurückgegangen wird in die Zeit, bevor etwa die Menagerie sich in Personal verwandelte, desto mehr Raum für Spekulationen tut sich auf. Desto mehr phantasiertes Fleisch läßt sich auf das dürre Gerüst der Fakten packen.

Eine Gruppe von Reptilien waren sie, die Dinosaurier, die sich durch Umbildungen des Skeletts von anderen Reptilien unterschieden. 225 Millionen bis 63 Millionen Jahre vor unserer Zeit belebten sie die Erde. In echsenhüftige und vogelhüftige lassen sie sich einteilen, waren von ein paar Gramm bis über 100 Tonnen schwer, die einzelnen Arten lebten zeitlich und geographisch begrenzt, etwa 220 davon sind mittlerweile bekannt. Nicht bekannt ist, wie viele Arten es tatsächlich gegeben hat, genausowenig wie die Farbe ihrer Haut oder der Federn, oder ob einige von ihnen vielleicht einen Rüssel besaßen. Insgesamt aber verfügten sie, so viel lassen die Knochen erkennen, über ein Ensemble an Versatzstücken des Monströsen, wie sie dem in dieser Hinsicht begabten Hieronymus Bosch plastischer nicht hätten einfallen können: Knochenplatten, Entenschnäbel, Stacheln, knöcherne Schwanzkeulen, Schwimmhäute, Zweimeterschädel, Papageienschnäbel, Kämme, Krausen, Sporen, Krallen...

Wer dankt da nicht an gigantische Tierschlachten in Sumpf und Schachtelhalmwald, an Verfolgungsjagden, reißende Bestien, splitternde Knochen und Todesgebrüll, das Felsen erzittern läßt? War es so? Wie sah es aus?

Schrille Urzeitcomics, zahnstarrende Monster

Dieses nie Gesehene sichtbar, greifbar zu machen, reizte schon Benjamin Waterhouse Hawkins, Bildhauer und Naturmaler. Als 1852 die Londoner Weltausstellung schloß, wurde das Hauptgebäude, der berühmte Kristallpalast, abgebaut, in den Londoner Vorort Sydenham versetzt und darin und darum eine Ausstellung vorzeitlicher Tiere eingerichtet. In einem künstlichen See wurden drei Inseln aufgeschüttet, eine quasi kreidezeitliche Dschungellandschaft angelegt, und Hawkins goß gewaltige Modelle von drei Dinosauriern in Zement, Iguanodon und Hylaeosaurus und Megalosaurus, geschuppte, echsenartige Nashörner nach seiner Überzeugung. Im Innern des Iguanodon feierten am Silvesterabend 1853 einundzwanzig Gäste die Fertigstellung des Werks. 1936 zerstörte ein Feuer den Palast, die Echsen blieben erhalten.

Ganz andere Gesichter gab William Stout in seinem Buch Die Dinosaurier 1981 denselbigen. Jugendstilornamente verzieren die Seiten, Echsen in knalligen Farben starren mit bösen gelben Äuglein in Landschaften, die ihre Nähe zu den phantastischen aus Tolkiens Der Herr der Ringe nicht leugnen wollen, eine Herde von Protoceratops schnarcht unterm bestirnten Himmel, Coelophysis flüchtet vor dem Dschungelbrand und schnappt sich noch schnell einen Icarosaurus als Wegzehrung. Ein Parasaurolophus-Pärchen kopuliert mühsam zwischen Seerosen und Weintrauben. Ein schriller Urzeitcomic, dessen Figuren große Ähnlichkeit mit den Horrorgestalten schlimmer LSD-Delirien haben. Gewaltige Projektionsflächen.

Auch die Vorderseite des Prospekts zur Berliner Ausstellung ziert ein zahnstarrendes Monster, das in bester King-Kong-Manier übers Brandenburger Tor herfällt. Mitnichten hat die Faszination, die die Urtiere ausüben, nur mit dem Interesse des Betrachters an Vergangenheit zu tun. Solche erbarmungslosen Killerwesen, solche überdimensionierten, hirnlosen Schlächter. Wie klein und ausgeliefert der Mensch dagegen wirkt — aber keine Angst, keine Angst. Hier wird ein Märchen aus vergangenen Zeiten erzählt, wird von längst ausgestandenen Schrecken berichtet. Hier wird Grund zum Gruseln gegeben, jener spielerischen Version des Schreckens, der unterhaltsamen Variante wirklicher Angst. Wer sich gruselt, übt „Ich habe keine Angst“. Was wir Menschen doch schon alles ausgestanden, überstanden haben! Darüber vergessen wir glatt, was uns noch blüht.

Schlüssige Grausamkeit — paradiesische Welt

Eine paradiesische Welt taucht auf den Bildern von ganz, ganz damals auf, etwa auf dem von 'Geo‘ mitgelieferten Das Zeitalter der Reptilien von Rudolph F. Zallinger, das im Peabody Museum von Yale hängt. Es ist eine unbeschädigte Welt, allem Fressen und Gefressenwerden, das dort sehr wohl stattfindet, zum Trotz. Harmonie herrscht, weil der Kampf ums Dasein Sinn macht. Die Feinde sind gewaltig, aber getötet wird um des Überlebens willen. Ein Lebenskonzept, das trotz aller Grausamkeit schlüssig scheint, weil Glaubenskriege, Drogentote und Dioxinverseuchung in ihm nicht vorkommen.

Was ist das, für den Metropolenbewohner im Jahre 1991, anderes als das Paradies auf einen Blick — einen zweiten wirft er schließlich nicht darauf.

Und irgendwann, auf einen Schlag, mit unerklärlicher „ökologischer Plötzlichkeit“ starben die „Ausgezählten der Evolution“ (Peter Brügge) also aus. Etwa 90 Hypothesen für dieses Verschwinden wurden mittlerweile aufgestellt: eingeschlagene Meteoriten, das Überhandnehmen von Schmetterlingen, die Gier der fleischfressenden Vertreter, Vulkanausbrüche und gewaltige Klimastürze etwa. Endgültig durchgesetzt hat sich noch keine von ihnen und den anderen 85.

Doch angesichts der Tatsache, daß eine Spezies für immer vom Erdboden verschwunden ist, die ihn immerhin 160 Millionen Jahre beherrscht hat, regt sich im Betrachter ein ganz anderes Gefühl: Mitleid.

Mitleid mit den Fleischbergen, die so riesengroß und sanft und blöd wie Kühe daherwackelten. Die Pflanzenfresser geraten ins Blickfeld, friedliche, niedliche, fröhliche Schmunzelmonster, Riesenbabys, die „Eliott“ getauft werden.

Sie sind weg. Nicht spurlos, aber endgültig. Und doch ging das Leben weiter. Die Säugetiere kamen, und es kam der Mensch. Und immer geht das Leben weiter. Das Verschwinden der Saurier hat etwas Beängstigendes und etwas sehr Beruhigendes zugleich an sich. In ihrem Verschwinden sieht der Mensch seine eigene Geschichte vorweggenommen. Und hat den Trost zugleich parat: Millionen von Jahren dauert so etwas. Wir erleben es nicht mehr. Die Erde lebt in anderen zeitlichen Dimensionen.

Dafür sind Saurier gut. Die Fragen, die die Wissenschaftler angeblich umtreiben: ob sie denn nun wirklich Warmblütler waren, wie es um ihre sozialen Kontakte und das Brutverhalten bestellt war, ob die Knochenplatten von Stegosaurus der Wärmeregulierung oder doch eher dem Kampf ums Dasein dienten — diese Art von Fagen interessieren das Publikum am wenigsten. Was ist schon das Hinterherhecheln der Wissenschaft gegen den brausenden Odem des Weltengeistes?

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