: Unverblümt neugierig
■ Eine Geschichte vom Liebhaben, die Erwachsene in Verlegenheit bringen kann
Es tut sich was auf dem Kinderbuchmarkt — in diesem Jahr erscheinen gleich zwei Bücher für Kinder, die sich mit Körper, Sinnlichkeit, Sexualität — und zwar in der Hauptsache von Kindern — beschäftigen. Zum einen Jan und Lisa — ebenfalls auf diesen Seiten besprochen — und Vom Schmusen und vom Liebhaben von Manfred Mai.
In den siebziger Jahren hatten die antiautoritären Erziehungsvorstellungen auch im Kinderbuchmarkt Eingang gefunden: Teilweise unter dem Geheul von konservativen Eltern und Erziehern kamen mutige, für die damalige Zeit „unerhörte“ Kinderbücher heraus, machte die „Rote Grütze“ mit ihrem Theaterstück Darüber spricht man nicht Furore. 1979 erschien dann als eine Art Schlußpunkt dieser Zeit das comicartige, witzig gemachte AufklärungsbuchPeter, Ida und Minimum. Zentrales Thema aller Titel: Aufklärung über Fortpflanzung, Sexualität von Erwachsenen .., die von Kindern indes eher am Rande, wenn überhaupt. Danach tauchten hier und da Titel auf, die den sexuellen Mißbrauch von Kindern thematisierten, wie auch ihr Recht, sich dagegen zu wehren (Heimlich ist mir unheimlich). Immerhin — Liebe ist in Kinderbüchern kein Tabu mehr, Sexualität im vielen Varianten in Jugendbüchern auch nicht.
Nun also, nach gut zehn Jahren Sendepause, ein neues Kinderbuch, dessen Autor tatsächlich begriffen hat, daß der Mensch von Geburt an ein sexuelles Wesen ist und daß Sinnlichkeit und Sexualität viel mehr umfassen als nur die Sexualorgane, die sogenannten „erogenen“ Zonen und die Fortpflanzung. Manfred Mais kurze Geschichten erzählen vom nackten Spiel in Matsch und Schlamm (und dem Iiihhh! mancher Erwachsenen), von Jungs, die nicht kloppen und klotzen, von der Nacktheit und den getrennten Umkleidekabinen. Sie sprechen vom Selberstreicheln (dort, wo's am besten kitzelt), von Kindern ohne Väter, vom „Doktorspiel“ (was manche Kinder gar nicht mehr nötig haben, weil sie keiner zu diesem Umweg zwingt) und vom „Neinsagen“-Dürfen, vom Liebesspiel der Eltern, die nicht immer ein Kind wollen, ja, auch vom Kinderkriegen und schließlich vom schwulen Mann von nebenan, der mit seinem Freund zusammenlebt.
Manfred Mais Kinderfiguren fragen unverblümt neugierig und werden sicher auch heute noch manchen vorlesenden Erwachsenen in Verlegenheit bringen. Die Geschichten sind durchaus unterhaltsam und wirken nicht aufgesetzt. Dieses Buch gehört in Kindergärten und Grundschulklassen — der beste Schutz für Kinder vor subtilen Ängsten und sexueller Ausbeutung ist für meine Begriffe eine umfassende Aufklärung über ihren Körper, ihre eigene Sexualität und die anderer, die sich nicht nur auf das Faktische begrenzt, sondern auch die emotionale, sinnliche Ebene miteinbezieht. Heike Brandt
Manfred Mai: Vom Schmusen und Liebhaben. Warum-Geschichten. Loewe Verlag 1991, 10,80 DM
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