MIT OST-ÖKONOMIEN AUF DU UND DU: UNO fordert Marshallplan
■ Länder Osteuropas immer tiefer in der Wirtschaftskrise
Genf (ap/taz) — Um den drohenden Kollaps der ehemaligen Ostblockstaaten abzuwenden, hat die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (ECE) den Westen zu einem umfassenden Hilfsprogramm aufgerufen. In einem gestern veröffentlichten Bericht zeichnet das UNO-Gremium ein düsteres Bild der Wirtschaftslage Osteuropas. Der ECE zufolge hat sich die Wirtschaftskrise vor allem in der CSFR, Bulgarien und Rumänien weiter vertieft.
Die marktwirtschaftlichen Reformen der Prager Regierung, so die ECE-Experten, führten das Land in eine in diesem Ausmaß nicht erwartete Rezession: Die Industrieproduktion wird 1991 um fünf bis zehn Prozent schrumpfen, der Privatkonsum um über 23 Prozent einbrechen. In Bulgarien wird ein Rückgang der Produktion um 20 Prozent erwartet; ein völliger Zusammenbruch der Industrie- und Agrarproduktion steht Rumänien bevor. Dort leide die Bevölkerung zudem unter einer über 200prozentigen Inflationsrate. In Polen verringert sich das Bruttosozialprodukt 1991 um etwa acht bis 12 Prozent; die Arbeitslosigkeit wird von 10,4 Prozent auf 15 Prozent im kommenden Jahr steigen. Für Ungarn hat die Kommission für 1992 ein Wirtschaftswachstum von ein bis zwei Prozent prognostiziert — nach einem sechsprozentigen Rückgang des Sozialprodukts in diesem Jahr ein Silberstreif. Die zwölfprozentige Verringerung des sowjetischen Sozialprodukts in diesem Jahr führte das Gremium vor allem auf die chaotischen Verhältnisse in den Beziehungen der einzelnen Republiken zurück. Auf harsche Kritik der UNO stößt die bisherige Handelspolitik der westlichen Industriestaaten. Zwar seien einige Konzessionen für Importe aus Osteuropa erreicht worden, führen die UNO-Experten aus. Doch in Schlüsselbereichen wie Textilien oder landwirtschaftlichen Erzeugnissen haben die Staaten immer noch keinen freien Zugang zum westlichen Markt. Die mangelnde Bereitschaft zum Abbau der Handelsbarrieren stünden „in krassem Gegensatz“ zu den Empfehlungen an die Oststaaten, ihre Volkswirtschaft schnell zu liberalisieren, so die ECE-Experten.
Die ECE bemängelte auch die geringe Koordination der zugesagten Unterstützung durch die westliche Staatengruppe der 24. Als Folgen der unzureichenden Abstimmung mit internationalen Organisationen wie der in London sitzenden Europäischen Bank für Wiederaufbau nannte die Kommission Doppelarbeit und die Verschwendung von Ressourcen. Daher sei ein neuer Marshallplan, ein wirksames Programm zur Bündelung der Unterstützungszusagen erforderlich, das auch den Bedürfnissen der dortigen Volkswirtschaften Rechnung trage.
Bei einer konsequenten Fortsetzung der Wirtschaftsreformen könnte nach Ansicht der UNO- Kommission 1993 eine allgemeine Erholung einsetzen. Allerdings sei die Belastbarkeit der Bürger bereits „gefährlich nah“ an ihre Grenzen gelangt, so daß im kommenden Jahr mit neuen sozialen Unruhen wie zuletzt in Rumänien zu rechnen ist.
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