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Sieg für den starken Mann von Kiew

■ Die Ukrainer stimmten am Sonntag für ihre Souveränität und wählten Ex-Parteifunktionär Leonid Krawtschuk zum Präsidenten. Die Sowjet-Politik wird nun von der Achse Rußland-Kasachstan bestimmt.

Sieg für den starken Mann von Kiew Die Ukrainer stimmten am Sonntag für ihre Souveränität und wählten Ex-Parteifunktionär Leonid Krawtschuk zum Präsidenten. Die Sowjet-Politik wird nun von der Achse Rußland-Kasachstan bestimmt.

Ostmitteleuropa, geographisch zwischen Ostsee und Adria gelegen, geschichtlich zwischen Rußland und dem Westen eingezwängt, hat am Sonntag ein neues Gravitationszentrum erhalten: die Ukraine. Mehr als 80 Prozent stimmten für die Unabhängigkeit, selbst die mehrheitlich von Russen bewohnten Territorien des Ostens, Südostens und der Krim hatten von der Union genug. Allerorten wurden am Sonntag Fähnchen mit der Aufschrift „Bye, bye USSR!“ geschwenkt.

Nicht nur groß ist das Land — mit seinen 55 Millionen Einwohnern größer als Frankreich. Es gibt hier fast nichts, was nicht gefunden, gefördert oder angebaut würde. Die Ukraine war die Kornkammer und Zuckerdose der ehemaligen Sowjetunion. Daß das Land in Bezug auf Rußland wirklich „am Rande“ liegt — denn dies bedeutet wörtlich der Name „Ukraina“ —, demonstrieren schon die Kiewer Balkone, deren Standardsowjetgrau Weinranken und behäbige Kürbisse gnädig bedecken.

Aber nicht diese Bilder haben sich der Welt eingeprägt, sondern die Fotos der Brandwolke, die das weite, lichte Tal des Dnjepr nach dem Reaktorgau von Tschernobyl verfinsterte. „Wenn wir unseren eigenen Staat gehabt hätten, hätten wir etwa das Tschernobyler Kraftwerk gleich bei Kiew gebaut? Niemals!“ bemerkte Leonid Krawtschuk, mit sicherer Mehrheit zum ersten Präsidenten der Republik gewählter Wendekommunist, in einem Vorwahl-Interview der 'Iswestija‘. Krawtschuk, einst als Ideologie-Sekretär der ukrainischen Partei für den Kampf gegen nationalistische Rechtsabweichungen zuständig, hat sich in den letzten Monaten hartnäckig geweigert, der von etwa der Hälfte der ehemaligen Sowjetrepubliken geplanten „Konföderation“ beizutreten. Für ihn war das Projekt nichts als Betrug.

Hingegen haben Krawtschuk und seine Anhänger nichts gegen eine Wirtschaftsunion der ehemaligen Sowjetrepubliken. Auch gegen einen gemeinsamen strategischen Raum mit anderen ehemaligen Sowjetrepubliken hat der bisherige Parlamentspräsident nichts einzuwenden: „Wir haben das Atomknöpfchen nicht nötig!“ Eine entsprechende Vereinbarung wurde am Samstag in Moskau von den Verteidigungsministern der Ukraine und zehn weiterer ehemaliger Sowjetrepubliken in Moskau in Gegenwart von UdSSR-Verteidigungsminister Schaposchnikow unterschrieben. Das Abkommen behält den einzelnen das Recht vor, Nationalgarden mit nichtstrategischen Aufgaben zu bilden, untersagt aber unilaterale Schritte einzelner Mitglieder in Verteidigungsangelegenheiten ohne Konsultation. Unter den Teilnehmern der unglückliche Michail Gorbatschow. Er hatte den mit naturwüchsiger Gewalt ablaufenden Unabhängigkeits-Prozeß in der Ukraine letzte Woche mit kassandrösen Katastrophenwarnungen begleitet, lenkte aber am Samstag im Angesicht des Unabänderlichen ein. Seinen amerikanischen Kollegen bat er, das „Ja“ im Referendum nicht als Bruch zwischen der Ukraine und Moskau zu deuten.

Ungeklärte Fragen halten die Vereinigten Staaten zur Zeit noch davon ab, mit ihrem angekündigten Schritt Ernst zu machen und die Ukraine anzuerkennen. Konkret nannte am Sonntag der amerikanische Botschafter in Moskau, Robert Strauss: Kontrolle über die Atomwaffen, Beteiligung am Auslandsschulden- Erbe der UdSSR und Achtung der Menschenrechte in dem neuen Staat. Die USA, so Strauss, wollten einen Sondergesandten zur Prüfung all dieser Punkte nach Kiew schicken. Ohne Vorbehalte hat bereits Ungarn die Ukraine diplomatisch anerkannt. Rumänien zog nach, würzte aber mit einem kräftigen Schluck Wermut: In der entsprechenden Demarche heißt es, die Anerkennung gelte nicht in vollem Maße für die rumänischen Territorien in der Ukraine. Darunter ist das Gebiet um Tschernowcy — die Nordbukowina — zu verstehen und eine reichliche Hälfte des Verwaltungsbezirks Odessa: Süd-Bessarabien. In der Nordbukowina kam es am Wahltag zu Kundgebungen kleiner Gruppen für den Anschluß an Rumänien.

Eine weitere Problemzone bildet die Westukraine, die in der Geschichte wiederholt zu Polen gehört hat. Dort ist die von Stalin 1946 verbotene „Unierte Kirche“ zu einer Quelle der nationalen Identitätsbildung geworden. In letzter Zeit kam es zu antirussischen Ausschreitungen von Jugendbanden. Etwa die Hälfte der zehn Millionen UdSSR- Katholiken leben in der Ukraine. Zankapfel Nummer eins auf dem Terrain des wiedererstehenden Staates wurde nach dem Moskauer August-Putsch die Krim. Mehrheitlich von Russen besiedelt und von den vertriebenen Krimtataren als Lebensraum beansprucht, gehörte sie historisch nie zur Ukraine. Erst eine Flause des Ukrainers Nikita Chruschtschow veranlaßte diesen 1954, sie seiner Mutterrepublik zu „schenken“. Nach dem Augustputsch reagierte Boris Jelzin auf die ersten Souveränitätsforderungen aus Kiew mit der Drohung, die Republikzugehörigkeit dieses Territoriums zur Diskussion zu stellen — eine Bemerkung, die zwar schnell wieder unterschlagen wurde, über die aber noch kein Gras gewachsen ist.

Für Rußland bedeutet die Verselbständigung der Ukraine eine schwere Identitätskrise. Der freiwillige Anschluß der ukrainischen Kosaken 1654 an das Zarenreich hatte Rußland den Weg zur europäischen Großmacht und zur Führungsmacht der ostslawischen Völker geebnet. Die folgenden drei Jahrhunderte wurden für die ukrainischen Bauern ein Leidensweg: von der Freiheit in die russische Leibeigenschaft, von blühendem Reichtum zum Hunger der Jahre 1932/33. Damals zielte die Politik der Stalinschen Zwangskollektivierung gegen dieses Land. Fünf Millionen Menschen verhungerten, die Grenzen wurden abgeschottet, und viele Züge aus Rußland durften die Bahnhöfe nur verriegelt passieren, damit nur kein Reisender einer der skelettartigen Gestalten auf dem Bahnsteig ein Stück Brot zusteckte. — Kann Krawtschuk, als alter KPdSU-Apparatschik, die Befürchtungen zerstreuen, die im Westen angesichts möglicher neuer Nationalitätenkonflikte und des künftigen ukrainischen Atomwaffenpotentials entstanden sind? Er selbst hat am Sonntag gleiches Recht für alle Nationen in der Ukraine gefordert. Der heute in Paris lebende ukrainische Menschenrechtskämpfer Leonid Pljuschtsch ist nicht ohne Hoffnung: „Schließlich verfügt Krawtschuk über die gleiche Tugend wie Jelzin“, sagte Pljuschtsch in einem Interview mit der 'Nesawisimaja Gaseta‘: „Er ist imstande, Realitäten anzuerkennen und dementsprechend seine Position zu ändern. Aber Jelzin hat noch einen wichtigen Vorteil, der Krawtschuk leider fehlt — er besitzt Rückgrat.“

Anläßlich der Ankunft seines Romanhelden Tschitschikow führt uns Gogol (Die toten Seelen) ein Gespräch zweier Bauern vor, das nicht dem eingetroffenen hohen Herrn gilt, sondern der Kutsche. An sachlicher Fundiertheit steht es den weltweiten Spekulationen über das künftige Verhältnis Ukraine-Union-Rußland in nichts nach: „Schau Dir mal dieses Rad an“, sagte der eine zum anderen. „Meinst du, daß es notfalls bis Moskau halten wird, oder nicht?“ „Das wird es wohl“, erwiderte der andere, „aber bis Kasan glaube ich wohl kaum. Nein, bis Kasan wohl kaum.“ Und damit war das Zwiegespräch zu Ende. Barbara Kerneck, Moskau

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