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Soziale Projekte suchen zunehmend Hilfe bei der Polizei

■ Die Kiez-Vereine »SO 36« und »Kotti e. V.« diskutierten im »Familiengarten« mit der Polizei über Einbruchsdelikte in Kreuzberg/ Immer mehr kleine Läden und Projekte sind durch die wachsende Kriminalität gefährdet/ Versicherungen stornieren ihre Verträge/ Wagenburgmentalität breitet sich aus

Kreuzberg. Der jüngste Fall kam gerade rechtzeitig für die Diskussionsrunde im Kreuzberger »Familiengarten«: Von Sonntag auf Montag wurde in die Kreuzberger Schokofabrik zum zehnten (!) Mal in diesem Jahr eingebrochen. Unbekannte durchbrachen dabei eine Mauer und hebelten von innen die Stahltür aus. Ein Fernseher und ein Videorecorder sind das magere Diebesgut. Zurück blieben verwüstete Räume und die schwierige Frage für das Sozialprojekt Schokofabrik, wie es sich weiter schützen soll.

Eine schnelle Antwort darauf fanden auch die von den sozial engagierten Vereinen »SO36« und »Kotti e.V.« Eingeladenen nicht. Betroffene, Nachbarn, die Polizei und ein Versicherungsmensch diskutierten über die steigende Zahl an Einbrüchen in kleine Läden und Sozialprojekte in Kreuzberg. »In den letzten zwei, drei Jahren hat die Angst schrecklich zugenommen«, beschrieb Rainer Sauter von SO36 die Atmosphäre in Kreuzberg.

Einen Milchladen in der Oranienstraße hat es dieser Tage zum fünften Mal erwischt. In einem Nachbargeschäft wurde vom Keller aus der Boden aufgesägt. Teilweise gibt es regelrechte Überfälle, bei denen die Ladenbesitzer mit »schlichter Gewalt« beraubt werden, schilderte ein Teilnehmer. Die Stimmung sei deutlich aggressiver geworden. »Früher war es eine Weltanschauung, in Kreuzberg zu wohnen«, meinte er achselzuckend, »inzwischen habe ich Lust auszuwandern.«

Inzwischen wird die Polizei auch zunehmend von Projekten und Institutionen gerufen, die dies früher abgelehnt hätten. »Wir machen keine Sozialarbeit, aber soziale Arbeit«, sagte der Inspektionsleiter der Kreuzberger Kriminalpolizei, Jörg- Michael Klös. Sein Kollege Horst Hinzke wünschte sich mehr Vertrauen zur Polizei und gestand ansatzweise Fehlverhalten ein: »Wir müssen gemeinsam aufarbeiten. Wenn es dauernd klirrt und Blaulicht durch die Gegend fährt, nimmt das eben niemand mehr zur Kenntnis«, warb der oberste Polizist Kreuzbergs (der übrigens an der Diskussion im Familiengarten mit der Pistole im Halfter teilnahm).

Klös und Hinzke nannten vor allem zwei Arten von Eigentumsdelikten: Kassendiebstähle in kleinen Läden und Einbrüche in Sozialprojekte. Als Täter kommen »zu einem nicht unerheblichen Teil« (Klös) Jugendgruppen in Frage. Dabei handle es sich um »Erlebniskriminalität«, die durch Gruppendynamik und Prestigedenken verursacht sei, so Jörg-Michael Klös. Hinzke ergänzte, daß in Kreuzberg ganz allgemein die »soziale Kontrolle« nicht mehr greife.

Probleme bereitet die Beschaffungskriminalität. Den Tätern sei es dabei egal, wie sie ans Geld kämen, so Klös. Entsprechend stellt sich das Bild nach den Einbrüchen dar. Der Schaden an Türen, Scheiben und — neuerdings auch — Mauern steht in keinem Verhältnis zum Wert der Beute. Es werde teilweise »mittels brutaler Gewalt« ein- und aufgebrochen, das sei der typische Kreuzberger Bruch, meinte Friedel Rohde von einer Versicherungsagentur.

Für die Läden und vor allem die vielen Sozialprojekte wirken sich Einbrüche dieser Art ökonomisch fatal aus. Die Schäden und die Sicherungsmaßnahmen sind kaum mehr zu bezahlen und, was schlimmer ist: die Versicherungen steigen aus den Verträgen aus. Im besten Fall wird die Versicherung zur Beratungsinstanz. Friedel Rohde berichtete, daß es »nach knapp 10 Jahren« gelungen sei, ein Kreuzberger Kulturzentrum »sicherungstechnisch« einigermaßen hinzukriegen. Die Folgen muten freilich grotesk an. Oder wer kann sich das vorstellen: durch Stahltüren abgeriegelte alternative Projekte oder das autonome Café »Ex« mit Alarmanlage und womöglich einer Standleitung zur Polizei? Christian Füller

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