: Odd man out — Hoffen auf einen starken Abgang
■ Nach der Proklamation von Brest könnte sich Gorbatschow auf die Datscha nach Stawropol zurückziehen
„Wenn die Sowjetunion nicht mehr länger existiert, wer, bitte, ist dann ihr Präsident?“ Auf diese einfache Frage schraubte der Sprecher Präsident Jelzins, Pawel Woschkanow, das Problem Gorbatschow herunter, nachdem wenige Stunden zuvor in dem Örtchen Viskuli bei Brest das Commonwealth der drei slawischen Staaten aus der Taufe gehoben worden war.
Nach der Proklamation von Brest könnte sich Michail Gorbatschow auf die Datscha nach Stawropol zurückziehen — aber noch gibt er nicht auf. Der Erhalt der Union ist ihm zum Fetisch geworden, zu ihrer Rechtfertigung bemüht er — ganz großrussisch — eine tausendjährige Geschichte seit der Gründung der Kiewer Rus. Und wie um sich einem französischen Fernsehpublikum besser verständlich machen zu können, erklärte er im Interview mit dem französischen Kanal TF 1: „Das Zentrum, das bin ich.“
Diese Behauptung ist gar nicht mal so unrealistisch, denn als Institutionensystem hat die Zentralregierung schon seit Monaten zu funktionieren aufgehört. Gorbatschow ist zum König Johann Ohneland geworden. Seine Rhetorik zur Verteidigung der Union beschränkt sich immer mehr darauf, die Unterstützung der westlichen Staatsleute mit den Bildern des Chaos und der Anarchie zu gewinnen — bis hin zu einem atomar geführten Bürgerkrieg, gegen den Jugoslawien „ein Kinderspiel wäre“.
Aber das Problem Gorbatschows ist, daß in den künftigen Commonwealth-Staaten kaum einer „das Zentrum“ überleben lassen will. Es gilt den Führern und der Bevölkerung der drei „slawischen Republiken“ als Inbegriff eines historischen Irrwegs oder schlicht als Sackgasse, wie es in dem Grundsatzdokument von Brest heißt. Oleg Rumjanzew, Verfassungsexperte und Vorsitzender der kleinen sozialdemokratischen Partei Rußlands, begründete die Wahl von Minsk als Koordinierungszentrum an Stelle Moskaus mit der schlichten Feststellung, es sei gleich weit von Kiew und Moskau entfernt. Die Wahl von Minsk an der äußersten Westgrenze des ehemaligen Imperiums entzieht Gorbatschow ein letztes Terrain, auf dem er meisterhaft taktierte: die Funktions- und „Orts“-Bestimmung für die fünf zentralasiatischen Republiken in einer künftigen Union.
Minsk ist nahe an der ersehnten Westgrenze, aber weit, weit entfernt von Taschkent und Duschanbe. Zwar wird im Gründungsdokument des Commonwealth — ähnlich der Unionsverfassung von 1922 — der Beitritt allen Staaten geöffnet, die die Grundprinzipien des Verbandes teilen. Gleichzeitig aber wird die historische Gemeinsamkeit der drei slawischen Gründerstaaten hervorgehoben. Für eine Weltpolitik Gorbatschowschen Zuschnitts (auch eine Weltverantwortung) sind die zentralasiatischen Republiken als Bestandteil der Union unverzichtbar. Für Jelzin, Krawtschuk und Schuschkewitsch sind sie Ballast, subsidienverschlingende Überbleibsel des Imperiums. Man ließe sie lieber ziehen. Wenn sie aber bleiben, dann ohne vermittelnde Instanz — ohne Gorbatschow.
Für die Architekten der neuen Brester Union ist ein drohendes russisches Übergewicht ausbalancierbar. Selbst der Ukrainer Krawtschuk, der rasch auf den Zug antirussischer Ressentiments aufgesprungen ist, hält einen Interessenausgleich für möglich.
Materiell birgt die Achse Kiew-Moskau (mit dem Nebengleis Minsk) große Entwicklungsmöglichkeiten. Die konkreten Wirtschaftsabsprachen von der Beibehaltung der Rubelzone über die koordinierte Preisfreigabe bis zum Abschluß eines Bankenabkommens, das die Geldemission kontrollieren soll, sind rational und decken sich weitgehend mit dem, was Gorbatschow denkt — was er jetzt denkt.
Denn Gorbatschows Problem seit 1985 war, daß er auf den Transformationsprozeß der Sowjetunion stets nur reagierte. Jetzt hat er durch seinen Pressesprecher andeuten lassen, die Brester Union könne als Modell für die Gesamtunion dienen. Will er sich zum Koordinierungspräsidenten mit Sitz in Minsk wählen lassen? Weiter Taktik statt Strategie? Hoffen wir auf einen starken Abgang. Christian Semler
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