: Normative Kraft des Faktischen
■ Die Bonner Klasse zeigt Beharrungsvermögen
Normative Kraft des Faktischen Die Bonner Klasse zeigt Beharrungsvermögen
Mit der Entscheidung vom 20. Juni, den Regierungssitz nach Berlin zu verlegen, machte sich dieser Tage Berlins Regierender Eberhard Diepgen in der 'FAZ‘ Mut, würde die Vereinigung erst im vollen Umfang angenommen. Sie trüge der neuen Struktur Deutschlands Rechnung. Diepgen mag damit den Sprachduktus seines Kanzlers getroffen haben — die Stimmungslage in Bonn hat er vollends verkannt. Mit ihrem gestrigen Beschluß hat die Bundesregierung deutlich gemacht, in welchem Umfang sie bereit ist, die Vereinigung anzunehmen, und wie die neuen Strukturen Deutschlands aussehen.
Es hat gute Gründe gegeben, die gegen Berlin als Parlaments- und Regierungssitz sprachen. Sie sind alle vor dem 20.Juni benannt worden. Neue Argumente kamen seitdem nicht hinzu. Die gestrige Entscheidung für die Aufteilung der Ministerien ist weniger Resultat eines politischen Diskurses als Ausdruck der normativen Kraft des Faktischen. Dagegen verhallte auch die Stimme der wenigen Berlin-Befürworter in Bonn. Der schleppende Gang der Umzugsvorbereitung seit der Juni-Entscheidung zeugt vom Beharrungsvermögen der politischen Klasse in Bonn. Es ist das krampfhafte Bemühen, das eingespielte Management der in sich abgekapselten politischen Apparate zu konservieren. Dieses Bemühen findet seinen sinnfälligen Ausdruck in dem Verlangen, einen eigenen abgeschlossenen Regierungs- und Parlamentskomplex als Stadt in der Stadt, im Zentrum Berlins entstehen zu lassen. Es ist die Abneigung gegen Politik als öffentlicher Prozeß, der sich auch in einem Stadtraum einbettet und in diesem seinen Resonanzboden findet. Es ist auch die heimliche Angst vor der Hauptstadt Kreuzberg oder Prenzlauer Berg. Und es ist die Weigerung, die Teilung tatsächlich durch Teilen zu überwinden, und sei es auch nur, indem man mit den Ostberlinern den gleichen städtischen Lebensraum teilt.
Berlin galt als Scharnier im Einigungsprozeß und als Seismograph der dabei auftretenden Friktionen. Es ist bezeichnend, daß die mit der Abwicklung der DDR-Wirtschaft betraute Treuhandanstalt die derzeit einzige relevante Bundeseinrichtung an diesem Ort ist. Dieter Rulff
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