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SWINGING PRAG

■ Prag im Jahr zwei nach der "samtenen Revolution": Der Tourismus boomt. Die goldene Stadt sonnt sich in einer einzigartigen Besucherwelle. Musikanten und Aktionskünstler auf den Straßen. In alten Kellern entsteht eine...

Prag im Jahr zwei nach der „samtenen Revolution“: Der Tourismus boomt.

Die goldene Stadt sonnt sich in einer einzigartigen Besucherwelle. Musikanten und Aktionskünstler auf den Straßen. In alten Kellern entsteht eine quirlige Clubszene. Ein Hauch von Beatlemania liegt in der Luft. Und die Prager Szene erfindet den Underground von neuem.

VONFRANKNORDHAUSEN

„Sei glücklich, daß du schon 220 Volt hast.“ Josef grummelt in den grauen Rauschebart, der seit unserem letzten Treffen mindestens zwei Zentimeter gewachsen ist. „Ist alles voller Nebel, seit die Handwerker da sind. Furchtbar.“ Prag wird modernisiert, von 110 auf 220 Volt.

Josef Rauvolf ist Übersetzer, Autor und ein Prager Fossil aus den trüben, den grauen Jahren nach 1968. Josef Rauvolf hat sie überlebt, mit Blessuren, mit einer Prise Schwejk und dank der Hingabe seiner Freundinnen. „Wir sind die verlorene Generation“, sagt er mit einem bedauernden Lächeln. „Alle, die älter als zehn Jahre sind, sind verloren.“ Er kramt in den Bergen, die er in seinem verrümpelten Zimmer angehäuft hat, und legt eine Platte von „Pulnoc“ auf, den Nachfolgern der legendären Dissidenten-Band „Plastic People of the Universe“. Pulnoc, das heißt Mitternacht, das heißt Zeitwende.

Josef immerhin hat die verlorenen Jahre genutzt. Hat sich durch die amerikanischen Poeten der Beat Generation gefressen, hat Bukowski übersetzt, Zappa und vor allem: William S. Burroughs. „Burroughs hat mich als seinen offiziellen Übersetzer anerkannt“, sagt er mit verhaltenem Stolz. Nun ist seine erste Übersetzung von Kurzgeschichten als Buch erschienen. Junkie, Naked Lunch, Nova Express werden folgen — Josef hat auf Halde übersetzt und profitiert jetzt vom Hunger nach der verbotenen Literatur.

Früher, das heißt vor der „sanften Revolution“ von 1989, maß er die träge verrinnende Zeit an der Größe des Wasserflecks in seinem Zimmer, den er Jahr für Jahr nachzeichnete. Der Wasserfleck ist seitdem nicht mehr gewachsen. Ein Zeichen? Die neue Zeit? „Na ja, viel passiert nicht. Der Kommunismus ist weg. Ich lebe nicht mehr in einem Gefängnis. Aber die Veränderungen gehen sehr langsam. 42 Jahre Totalitarismus haben alles erdrückt. Und wir haben keinen Kohl, der das Geld reinschaufelt.“

Heimkehr nach Europa, touristisch gesehen

Aber ich registriere Veränderungen. Laufe durch die Straßen, lasse mich treiben. Prag glänzt. Die goldenen Kuppeln und Türmchen leuchten. Beschwingt. Wie ausgewechselt wirkt die Stadt, wie von einem Alptraum befreit. Zwar ist auch das magische Staunen, die überschäumende Glückseligkeit der Revolutionstage dahin. Dafür aber richtet man sich auf eine Art Normalzustand ein: Von der „Heimkehr nach Europa“ ist hier im Übermaß die Rede.

Sichtbares Zeichen ist die Welle von Touristen, die sich Tag für Tag durch die Gassen und Gäßchen ergießt und an den Hauptattraktionen zu Knäueln verdichtet. Prag ist nach Westen gerückt, kein Abenteuer hinter eisernen Vorhängen mehr. Folglich wird die Stadt fest in den Fahrplan der touristischen Internationale eingebaut. Auf den Treppen des Jan- Hus-Denkmals lümmelt die europäische Einheitsjugend wie vor dem Centre Pompidou in Paris, wie auf dem Dam in Amsterdam.

Vorbei somit die Tage, da man einsam und melancholisch die Karlsbrücke überschreiten und das Grab des Rabbi Löw auf dem jüdischen Friedhof besichtigen, sich im trüben Flackern der Laternen die Wiederkehr des Golem herbeigruseln konnte. Jetzt spielt eine Beatles-Revival-Band unermüdlich ihr Hard Day's Night auf dem Altstädter Ring...

Für realsozialistische Verhältnisse war Prag ja geradezu paradiesisch ausgestattet. Nun allerdings müssen sich Schwarzbierhöhlen, k.u.k. Cafés und geigenumflorte Weinstuben dem Ansturm oft geschlagen geben. „Besetzt“, „reserviert“, „ausgebucht“ — schlechte Zeiten für einen spontanen Restaurantbesuch.

Der Tourist steht also in der Schlange, aber voller Verständnis, denn „sie üben ja noch“. Sie üben den Kapitalismus und bewegen sich zwischen zwei Welten. Ihr Alltagsterrain ist überschaubar geblieben. Ob Kaufhäuser, Schnapsläden oder Buchhandlungen — man führt die jeweils exakt gleichen Produkte, beschränkte Auswahl. Kein Vergleich mit dem Überangebot, das auf Händler wie Käufer in der Ex-DDR niedergeht. So prangt in jedem Buchladen Josefs Burroughs-Übersetzung im Schaufenster. Auflage: gigantische 40.000. So nehmen die Verlage ihr Publikum immer noch an die Hand: Diesen Monat gibt es eine Ausgabe des amerikanischen Autors X, also lies X! Im nächsten Monat bekommst du Y, und dann vielleicht Z, sei zufrieden!

Realsozialismus im existierenden Kapitalismus. Gründerzeit ohne Gründer. Und die großen internationalen Konzerne nehmen sich des neuen Marktes ausgesprochen zögerlich an: großflächige Reklame leisten sich nur Minolta und IBM.

Wo sind sie also, die Glücksritter und halbseidenen Gestalten, die jeden freien Fleck in Ostdeutschland in einen Basar verwandeln? Ist das Geschäft nicht lukrativ genug? Dabei läßt sich doch trefflich daran verdienen. Zoltan R., er bietet winzige Kitschgiraffen und -rehe aus Glas feil: „Ich mache hier 3.000 Kronen Gewinn am Tag. Im Monat habe ich zehnmal soviel wie der Durchschnitt.“

Rockmusik und Schwarz- bier: die neue Clubszene

Kein schlechtes Geschäft auch die neuen Jazz- und Rockclubs, die in der Moldaustadt entstehen. Anders als die Galerien, die überall förmlich aus dem Boden sprießen, halten sie sich noch in überschaubarer Anzahl. Die Prager „Szene“, leicht angestaubt, aber befreit vom lastenden Druck des StB (Stasi), versucht, in dem struppigen Niemandsland der Zwischenzeit Räume zu besetzen: ein freies Radio. Ausstellungen, Kulturzeitschriften wie 'Revolver Revue‘ oder 'Vokno‘ (Fenster), die auf bewährte Kämpen des Samisdat zurückgreifen können.

Und eben die neuen Clubs. Es ist zwar noch weit bis zum „Weltniveau“, aber dafür offerieren sie den Charme des Unfertigen, die wilde Note des Improvisierten. Direkt am Altstädter Ring, dem Herzen des historischen Prag, hat sich im Keller seit März „Blazenka“ eingenistet. Heiß, stickig und verschwitzt ist es in dem alten Gemäuer, das mit ein paar Aquarellen notdürftig geschönt wurde. Ein roh gezimmerter Tresen, Fischernetze an der Decke, das Klo eine Katastrophe. Kurz: das Ambiente eines gerade entmisteten Kohlenkellers. Alles erfrischend unprofessionell, ein echtes Erlebnis für gelangweilte Mitteleuropäer. Nur Josef muffelt: „Zu laut, zuviel Betrunkene.“ Am Wochenende zwängen sich zwei- bis dreihundert in die Gewölbe mit ihren Kappendecken.

Jeden Abend spielen hier Musiker vor einer begeisterten und euphorisierten Menge. Im Gelaß zur Rechten tobt die Menge und verlangt Zugaben. Den Sänger der Gruppe, Bronislav Kucera, 29, treffe ich nach dem Konzert eine Treppe tiefer, in einem geradezu abenteuerlichen, stinkend-verrauchten Raum. Hier sitzen keine Touristen, nur Prager Freaks an billigen Tischen auf eilig zusammengehauenen Holzbänken. Bier ist alle, es gibt aber noch süßen tschechischen Wein, harten Stoff.

„Das hier ist ein Nightclub für Studenten und junge Menschen“, erklärt Bronislav. Er leitet den Club, hat dafür Geld von einem dubiosen ungarischen Geschäftemacher geliehen. Er betreibe den Club weder legal noch illegal; es frage einfach niemand nach einer Lizenz, „die Behörden haben wohl anderes zu tun“. Jeden Tag spiele eine andere Gruppe, erklärt er stolz: „Rock, Big Beat, Jazz, Swing... Du weißt nicht, wie das Leben hier früher war. Vor der Revolution haben wir nichts gemacht. Das hier ist sehr gut, es ist ein Start.“

Sie feiern die Freiheit zu feiern, alle Tage: „Eine bessere Lage gibt es nicht in Prag. Und wir zahlen eine spottbillige Miete.“ Aber nur noch sechs Monate lang. „Das Haus geht an die alte Eigentümerin zurück, eine Amerikanerin. Die will ein Hotel eröffnen. Dann müssen wir wieder raus. Ich hoffe, dann so viel Geld zu haben, daß ich einen neuen, eigenen Club aufmachen kann.“

Sein schärfster Konkurrent ist das Rock-Café nahe der berühmten „Laterna Magica“. Aber was heißt Konkurrent? Der Markt ist groß genug für alle. Trotzdem schimpft Bronislav, dort sei man nur hinter dem Geld her, kein Idealismus mehr. Von wegen Underground...

Das Rock-Café, die Adresse in Prag für Teenager-Touristen und jugendliche Reisegruppen, hat sich ein fast westliches Outfit verpaßt, streng, schwarz und karg, und wird professionell geführt. Aber in Wirklichkeit herrscht auch hier dieser eigenartige Zustand zwischen Nicht- mehr und Noch-nicht. Es spielt eine Prager Gruppe, Mischung aus frühen Puhdys und späten AC/DC. Der Sound ist atemberaubend schlecht, zumal wenn der Sänger auf tschechisch brüllt. Aber dem Publikum ist das einerlei. Es tanzt und hüpft und kreischt. Die Mädchen wippen auf den Schultern ihrer 1,80-Männer. Wie Wesen von einem anderen Planeten schwanken die Prager Szene- Veteranen — Jeansjacke, Fusselhaare und schwarzbiergerötete Wangen — mittenmang. Keiner will sie mehr. Kommunikation zwischen den Welten findet nicht statt. Genervtes Augenbrauen-Hochziehen, und Ende.

Das definitive Nonplusultra

Das sieht im dritten Rockschuppen Prags ganz anders aus. Hier ist die Szene noch unter sich. Der Ort heißt „Ujezd“ und befindet sich auf der anderen Seite der Moldau. Es ist das Viertel, wo man das Entstehen einer städtischen Gegenkultur ahnt. Uralte Häuser, die mal besetzt waren, aber die Polizei greift schnell und hart durch. Dafür sanfte Graffiti an den Mauern: „Flowers. Freedom. Happiness. Let's get together and feel alright“. Daneben ein Lennon-Porträt, gleichsam als Ikone der neuen Zeit. Es gibt ja so viel nachzuholen...

„Ujezd“ gehört einem Prager Künstler, der sein Haus zum öffentlichen Platz machte. Seit fast zwei Jahren zieht die Prager Kutten- und „Punk“-Jugend in das schmale ockergelbe Wohnhaus auf der Kleinseite. Zwei Tage in der Woche nur geöffnet, gilt der Ort dennoch allen Eingeweihten als das definitive Nonplusultra. Die Menschentraube vor der Tür beweist das. Eine halbe Stunde nach Einlaß findet niemand mehr Einlaß. Drei Etagen mit jeweils etwa 30 Quadratmetern, ein Geruch von Bier und Schweiß und Rauch. Die Wände voller Graffiti und Zeichnungen. Im Erdgeschoß spielen die Gruppen in einer Art Höhle, im ersten Stock gibt es eine Bar mit „Video“ (einem altersschwachen Fernseher), und im Keller sprechen junge Tschechen dem Bier zu. Selten, daß sich Ausländer hierher verirren. „Wieviel Bier kannst du trinken? Was, nur zehn? Zehn ist Scheiße, zwanzig ist gut.“ Es darauf ankommen zu lassen ist nicht teuer. Ein großes Bier kostet etwa 50 Pfennig. Wohl nirgends sonst kann man sich am Abend so billig besaufen.

Amerikanische Wahlverwandtschaft

Als ich die Lokalität verlasse, sehe ich überall Liebespaare. In der gemächlich trüben Moldau spiegeln sich die Lichter aus den Bürgerpalästen der Prager Altstadt. Musik liegt in der Luft. Der laue Wind trägt Fetzen von Nicos All Tomorrows Parties herüber. Vor Hunderten spielt die „Velvet Underground Revival Band“ auf der Cofin-Insel inmitten der Moldau. Als ob die Zeit zurückgedreht wurde.

Eine Verbindung zwischen der Welt des amerikanischen Underground und der Prager Szene bestand seit jeher. Wahlverwandtschaften? „Wahrscheinlich sind wir uns ähnlich, mentalitätsmäßig“, vermutet Josef. Er selbst lebt mit den Koordinaten Velvet Underground und Frank Zappa, mit Charles Bukowski, Allen Ginsberg und William S. Burroughs. Zwei Monate ist es her, da war er das erste Mal in den Vereinigten Staaten, hat bei Ginsberg gewohnt und Burroughs besucht. „Wir haben tagelang über Literatur geredet. Burroughs hat mir seine Waffensammlung gezeigt.“ Und Timothy Leary, der LSD-Prophet, hat ihn nach Kalifornien eingeladen.

Jetzt genießt Josef den neuen Prager Frühling. Auch die politischen Aktionen erinnern an die Zeit von Flower Power und Make Love Not War. Ein sowjetischer Panzer, der als Denkmal an die Befreiung vom Faschismus erinnern soll, wurde immer wieder rosa angestrichen, „bis sie ihn endlich abholten und ins Museum stellten“, sagt Josef.

Prag 1991 — eine Prise von Swinging London und Height Ashbury. Im realiter existierenden Museum der sozialistischen Gesellschaftsordnung. Zeitenwende — Ungleichzeitigkeit.

Und es ist ein weiter Weg, der Weg nach Kalifornien.

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