: Wohnungslos in Ost und West
Die neue Hauptstadt hat nicht nur Sogwirkung auf Geschäftsleute, auch immer mehr Obdachlose werden angezogen, darunter viele aus den neuen Bundesländern. Das Los, ohne Wohnung und Arbeit dazustehen, gab es in der ehemaligen DDR so gut wie gar nicht, was den Absturz und die Hilflosigkeit noch mehr verstärkt. ■ VON ANNETT JENSEN
Schwer hängt der Geruch von Kartoffelsuppe in der Luft. Auf einer jungen Männerbrust steht unübersehbar: „My life is a dream“. Kaum einer spricht, als sich alle an den großen Tisch mit rot-weiß karierter Kunststoffdecke setzen. „Wir wollen doch erst beten“, meint Schwester Monika. Die schon angefangen hatten, lassen die Löffel auf die bunten Plastikteller sinken, einige falten die Hände und bekreuzigen sich.
Eine Viertelstunde haben sie geduldig vor der Tür zur Suppenküche neben dem Franziskanerkloster gewartet, bis die Schicht vor ihnen Platz gemacht hatte. Fast alle, die hierherkommen, teilen das Schicksal, wohnungslos zu sein. Achim findet sich beinahe jeden Tag hier ein, in der Ostberliner Wollandstraße. Seit vier Wochen lebt er auf der Straße, ohne einen Pfennig Geld. Nichts an seinem Äußeren paßt in das gängige Klischee vom Obdachlosen: Sein blau-weiß gestreiftes Leinenhemd ist fleckenlos und sein Gesicht glattrasiert wie ein Babypopo; der Freund eines Freundes läßt Achim öfters in sein Badezimmer.
In Berlin ist Obdachlosigkeit ein Massenphänomen. Der Senat schätzt die Zahl auf 7.000 bis 8.000 Menschen, die in Abbruchhäusern, Billigunterkünften — von ihren Bewohnern Läusepensionen genannt — oder völlig unter freiem Himmel leben. Sozialarbeiter halten hingegen eine Ziffer von 16.000 bis 18.000 für weitaus realistischer. Wieviele Wohnungslose aus der Ex-DDR stammen, weiß indessen noch niemand zu sagen. Jedenfalls hat Berlin nicht nur auf Geschäftsleute und Arbeitsuchende eine Sogwirkung, sondern zieht auch Obdachlose an. „Scham und die Angst, als asozial angesehen zu werden, sind in der Anonymität einer Großstadt eben leichter zu ertragen“, sagt Rainer Wild vom Berliner Mieterverein. Außerdem ist in der zusammenwachsenden Stadt die Versorgungslage mit Wärmestuben und Beratungsstellen, wo es neben einem Kaffee, einer Dusche und Waschmaschine auch die Chance auf ein Gespräch mit Schicksalsgenossen gibt, weitaus besser. In anderen Städten der Ex-DDR ist die Zahl der Wohnungslosen — noch — überschaubar; aber auch da ist sie in den letzten Monaten angestiegen.
Achim: Von der Stasi in den Knast
Achim ist 40. „Grad geworden. Zum Geburtstag hat mir der Pfarrer eine Banane geschenkt“, sagt der Ex- DDRler mit einem ironischen Unterton, der genauso zu seiner Stimme gehört wie das rasende Tempo, mit dem er spricht. Als junger Mann war er anpassungswillig und karriereorientiert — und Ehrgeiz ist für ihn auch heute eine Tugend. Seine Eltern waren stets bemüht, ihn auf den Weg realsozialistischer Tüchtigkeit zu bringen: „Mein Stiefvater wollte am liebsten Staatsratsvorsitzender werden — na, jedenfalls hat er sich in der Parteihierarchie hochgebuckelt.“ Auch Achim hatte nichts gegen die DDR, im Gegenteil. Er verpflichtete sich für drei Jahre bei der Armee und wurde Unterfeldwebel. „Mit ein bißchen kommunistischem Dazugequatsche wäre mein Aufstieg anschließend bestimmt noch schneller gegangen.“
Einige Monate, bevor Achim Helm und Uniform an den Nagel hängte, bekam er Besuch: „Ein Herr vom Ministerium des Innern schlug mir vor, bei der Potsdamer Kripo anzufangen — die Aufstiegschancen seien sehr gut.“ Achim schlug ein. „Erst als ich zur Einstellungsuntersuchung kam, kapierte ich, daß ich bei der Stasi arbeiten sollte“, behauptet er. Fortan bespitzelte er — je nach Auftrag — Ausreisewillige und Fluchtverdächtige zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Auto. „Außer Flugzeugen hatten wir da alles.“ Auch die Ausforschung seiner Freunde war für Achim kein Tabu. Heute spricht er merkwürdig gleichmütig über diese Zeit. Als ihn seine Vorgesetzten dann vor die Alternative stellten, sich entweder von seiner Freundin mit Westkontakten zu trennen oder den Job zu verlieren, entschied er sich für die Freundin.
Achim wurde Kraftfahrer. Seine Karrierechancen im Arbeiter-und- Bauern-Staat hatten gelitten. „Immer wenn ich mich um eine bessere Stelle bewarb, hieß es plötzlich: Geht nicht, wir ham nix.“ So heuerte er 1977 frustriert beim Zirkus als Lkw- Fahrer an, plante schließlich, sich bei einer Ungarn-Tournee in Richtung Westen abzuseilen. Aber die einstigen Kollegen leisteten ganze Arbeit und schnappten ihn: Fünfeinhalb Jahre wegen Fluchtversuch und Spionage lautete das Urteil, abzusitzen in Bautzen1, dem Sondervollzug für politische Täter.
Die Amnestie von 1979 brachte Achim zunächst die Freiheit wieder. Er bekam einen Job — als Bote in einem Blindenheim — für 390 Mark im Monat — und eine Wohnung „mit fließend Wasser die Wände runter“. Jede Woche mußte er sich, manchmal mehrmals, beim Abschnittsbevollmächtigten melden, einem freiwilligen und nicht speziell ausgebildeten Bewährungshelfer. „Ich durfte fast gar nichts mehr.“ Der Staat verbot ihm auch den Umgang mit bestimmten Leuten und verlangte, daß er über seine Kontakte laufend berichtete. „Ich habe das nicht gemacht, wollte einfach nicht mehr“, erzählt Achim. Der Abschnittsbevollmächtigte drückte zwar eine Weile die Augen zu, aber als Achim dann, um seinen mageren Lohn aufzubessern, ab und zu mal was mitgehen ließ, fuhr er wieder ein — wegen Diebstahls und „asozialem Verhalten“.
Obdachlose sollte es im Osten einfach nicht geben
Während im Westen Haftentlassene häufig auf der Straße landen und weder Job noch Wohnung finden, wurden ihnen in der Ex-DDR sofort Wohnung und Arbeit zugewiesen. Die Wohnung war zwar häufig in miserablem Zustand, die Arbeit meist unqualifiziert und schlecht bezahlt, und außerdem wurde der ehemalige Häftling mit einer Latte von Auflagen und Verboten drangsaliert. Doch man sollte in der Gesellschaft bleiben. Schließlich wurde Obdachlosigkeit als „asoziales Veralten“ vom DDR-Strafgesetzbuch kriminalisiert, und die „Täter“ wurden über kurz oder lang ins Gefängnis, Erziehungsheim oder in die Psychiatrie gesperrt. Den einzigen Ausweg aus der Spirale von Überwachung und Freiheitsentzug stellte dann häufig nur noch ein — neuer — Fluchtversuch in den Westen dar.
Als Achim im Frühjahr 89 bei seiner vierten Entlassung vor die Alternative gestellt wurde, die DDR innerhalb von 24 Stunden zu verlassen oder sich wieder unter das Joch der Auflagen und Verbote zu beugen, gab es für ihn keinen Moment des Zögerns: „Da war ich schnellstens weg.“
Sein Versuch, im Westen Fuß zu fassen, scheiterte, und als ein Freund, den er in München wiedergetroffen hatte, zurück nach Berlin wollte, entschloß sich Achim, mitzukommen, um nicht wieder völlig allein dazustehen. Die Wohnungsämter im ehemaligen Ostteil der Stadt aber wollten einen Wohnberechtigungsschein sehen. Den aber bekommen fast ausschließlich nur diejenigen, die schon seit einem Jahr hier gemeldet sind. Auf diese Weise soll verhindert werden, daß der — wie in der gesamten Ex-DDR — knappe Wohnraum durch einen massenhaften Umzug von Westberlinern noch weiter schrumpft.
Gerd: Rausschmiß durch die Partnerin
Eine häufige Ursache für Obdachlosigkeit in den neuen Ländern ist der Rausschmiß durch Partner oder Partnerin. Zum Beispiel Gerd:
Gerd kann die Augen kaum offenhalten, zwinkert ständig, drückt, knetet und reibt seine Hände, während er vornübergebeugt auf einem abgewetzten Sessel hängt. Seit drei Tagen hat er nicht mehr richtig geschlafen, die letzte Nacht in einem nicht abgeschlossenen U-Bahn- Waggon verbracht. Seine Situation empfindet er als würdelos. Vorgestern hat der 38jährige die Wohnung seiner Eltern in Magdeburg verlassen, wo er vorübergehend untergeschlüpft war. Nach der Scheidung waren die beiden gezwungen, noch jahrelang miteinander in der selben Wohnung auszuharren. Gerd bezog das Zimmer seiner Tochter, die fortan einen Raum mit der Mutter teilen mußte. Als Gerds Frau die Situation nicht mehr aushielt, wechselte sie das Schloß aus. Gerd klopfte bei seinen Eltern an, aber in der engen Wohnung kam es schnell zu Spannungen und schließlich zum Krach.
Nun sitzt er in der Ostberliner Caritas-Stelle, der ersten und einzigen nichtstaatlichen Anlaufstelle „für sozial in Not geratene Menschen“, wie ihr Begründer Morell nicht ohne einen gewissen Stolz betont. Bei schnulziger Musik vom Plattenteller gibt es Dienstag abends Blutwurstbrötchen und Früchtetee — und nach der Zigarettenpause eine Stunde Geborgenheit. Morell schlägt die Klampfe und stimmt ein Lied an. Die Neuen aus der Schar der rund zwei Dutzend Anwesenden sollen sich vorstellen. Sie sind meist wortkarg, so wie Gerd, der sich nicht als obdachlos bezeichnen mag. Er ist gekommen, um sich „Rat und was zum Essen zu holen“. Am nächsten Tag werde man in Ruhe nach einem Weg suchen, tröstet Morell.
Die Wohnungslosen aus dem Westen, die zum Teil schon seit Jahren in Billigpensionen, in Abbruchhäusern oder ganz auf der Straße leben, halten ihre neuen Leidensgenossen aus dem Osten für naiv: „Die Ossis sind noch so unerfahren. Die blicken einfach noch nicht durch, wie das hier läuft und geben ohne Nachdenken Arbeit und Wohnung auf“, sagt Hannes (45), der seit Jahren gezwungen ist, in einem Männerheim zu wohnen.
Dahinter steht die häufige Erfahrung West-Obdachloser, daß sich Arbeits- und Wohnungslosigkeit gegenseitig bedingen. Nach dem Jobverlust können die Leute oft die Miete nicht mehr aufbringen; schließlich kommt der Gerichtsvollzieher und läßt die Wohnung räumen. Ohne Adresse aber ist es fast ausgeschlossen, wieder eine feste Arbeit zu finden. An irgendeiner Stelle dieser Spirale kommt häufig Alkohol mit ins Spiel. Weil soziale Einrichtungen wegen der verfehlten Wohnungsbaupolitik den Hilfesuchenden keine Wohnungen anbieten können, ist die Resozialisierung oft unmöglich. „Wir spielen nur noch Feuerwehr — seit Jahren“, sagt Kurt Lindner von der Berliner Diakonie wütend. Berber, für die eine Wohnung kein Ziel ist, stellen immer mehr die Ausnahme seiner Klientel dar. „Viele Leute brauchten gar keine soziale Betreuung — was sie brauchen, ist schlicht und einfach eine Wohnung“, bestätigt seine Kollegin Elfriede Schön.
150.000 Wohnungen fehlen in der neuen Hauptstadt, schätzt der Berliner Mieterverein — die Aufhebung von Mietpreisbindung und der verstärkte Zuzug aus anderen Landesteilen werden den Druck auf den Wohnungsmarkt noch weiter verschärfen. So sind in den letzten Jahren, zumal wenn es kalt wird, auch die Betten in Läusepensionen rar geworden, und in den letzten Wintern mußten regelmäßig Notunterkünfte in Kirchenräumen eingerichtet werden.
In Halle gibt's im „Asylheim“ noch Betten
In Halle aber stehen im neueingerichteten „Asylheim“ Betten leer. Vor kurzem noch schlurften alte Leute durch die langen, gekachelten Gänge. Jetzt leben hier die Obdachlosen der Stadt. Die spartanisch eingerichtete Küche wirkt unbenutzt, auf dem Klo rauscht ständig das Wasser. Bei Michael und Ralf stehen schon am Morgen die Bierflaschen auf dem Tisch; nicht, daß das immer so sei — aber heute ist der Prospektlieferant nicht gekommen, und so gibt es nichts zu tun. „Wenn ich hier ein Jahr leben müßte, würde ich zum Alkoholiker“, sagt der 31jährige Hühne Michael. Einen festen Job haben beide nicht: „Mit dieser Adresse stellt dich sowieso kein Schieber an.“ Michael hat eine Ausbildung als Koch, aber viel Hoffnung, eine Anstellung zu finden, hat er nicht. „Ich bin zu alt“, meint er und zeigt auf die Narbe an seinem Arm — Erinnerung an einen verzweifelten Moment, als er sich die Pulsadern aufschneiden wollte.
Gleich nachdem das Asylheim eingerichtet wurde, gaben sich die Anwerber für Hilfsjobs die Klinke in die Hand. Für 35 Mark am Tag stehen sich Michael und Ralf auf Abruf die Beine in den Bauch und werben für Möbel, die sie sich selbst nicht leisten könnten. Das Geld gibt's schwarz auf die Hand. „Ich brauch das dringend, denn von meinen 820 Mark Arbeitslosengeld muß ich noch für zwei Kinder zahlen“, sagt Michael, der vier Mark für jede Nacht an der Rezeption abliefern muß.
Die beiden fühlen sich im Stich gelassen. „Wenn du dich ruhig verhältst und solange du noch selber denken kannst, mußt du hier alle Sachen selber regeln“, beschwert sich Michael. „Dieser ganze Bürokram oder was man beantragen kann, Kleidergeld und so, da müßten die doch mit uns reden! Wer sich nicht selber kümmert, der ist hier tot erschossen!“ Die Erwartung an die Sozialarbeiter klingt fast wie der Ruf nach Mutters Rockzipfel.
Auch wenn in Halle die Kapazitäten des Asylheims noch nicht erschöpft sind, so weist die Statistik doch eine deutliche Steigerung auf: Waren im Januar erst sechs Fälle von Obdachlosigkeit bekannt, so wuchs die Zahl im März auf 17, und im Juni wurden 46 gezählt. Sinkende Einkommen, steigende Arbeitslosigkeit und höhere Mieten lassen keine Besserung erwarten.
Die Fehler des Westens nicht wiederholen
Tatsächlich sind ganze Straßenzüge in der 330.000 Einwohner zählenden Stadt inzwischen unbewohnbar: Die Fenster zerbrechen, Decken stürzen ein, und es regnet ins Dach. Und viele bewohnte Wohnungen verdienen diese Bezeichnung nicht. Strukturell aber besteht in der Ex-DDR die Chance, die Fehler, die in diesem Bereich in der Bundesrepublik gemacht wurden, zu vermeiden und einer massenhaften Obdachlosigkeit vorzubeugen. Denn der Löwenanteil der Wohnungen wird nach wie vor von riesigen Wohnungsbaugesellschaften verwaltet, die den Bezirken unterstehen. Thomas Engelhard vom Sozialamt in Halle fordert die bevorzugte Behandlung für benachteiligte Mieter: „Durch vertragliche Fixierung ist die Sicherung der Belegungsrechte zu gewährleisten für Wohnungen, die zunehmend von marktwirtschaftlich arbeitenden Unternehmen geführt werden und kommunales Eigentum repräsentieren. Für Wohnungen, welche in Privatbesitz wechseln, sind für einen konkret zu benennenden Zeitraum Belegungsrechte festzuschreiben.“
Noch ist der Kündigungsschutz in den neuen Ländern relativ streng. Bis 1992 dürfen Privateigentümer nur in absoluten Ausnahmefällen Eigenbedarf anmelden, etwa, wenn sie selbst obdachlos sind. Und der Mietpreisspirale, wie sie aus westlichen Metropolen sattsam bekannt ist, ist durch eine unbefristete Mietpreisbindung nach der massiven Erhöhung in diesem Oktober vorerst ein Riegel vorgeschoben. Somit hat ein Konzept, das Wohnraum nicht so gut wie ausschließlich nach Marktkriterien, sondern — zumindestens auch — nach Bedürftigkeit verteilt, in der Ex-DDR tatsächlich eine Chance — wenn es politisch gewollt wird. Und Achim, Gerd, Michael und Ralf würden dem Schicksal entrinnen, durch dauerhafte Obdachlosigkeit notwendig auch dauerhaft arbeitslos zu sein.
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