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Was tat das Kind am 4.Juni 1989?

Chinas Dissidenten dürfen ausreisen, heißt es in Peking — „wenn sie die Formalitäten erfüllen“  ■ Aus Peking Catherine Sampson

Chinesische Kinder sind nicht ganz so unschuldig, wie sie wirken — vor allem für die mißtrauischen Augen der Polizeibeamten, die Ausreisevisa erteilen sollen.

„Mein Sohn war in der vierten Klasse einer Pekinger Grundschule, aber das Parteikomitee seiner Schule mußte seine politische Unbedenklichkeit bescheinigen, bevor sie ihm ein Visum gaben“, berichtet der Dissident Su Xiaokang, der jetzt in den USA lebt. „Der Vizedirektor der Schule sagte: ,Ich kann das nicht unterschreiben, wie soll ich denn wissen, was er am 4.Juni getan hat?‘“ Ein ganzes Jahr lang weigerte sich die Polizei, Sus Sohn ein Visum zu erteilen, damit er seinem ausgereisten Vater folgen konnte. Su kommentiert: „Er war ganze acht Jahre alt.“ Sus Frau, eine Ärztin, wurde von der Polizei unter Berufung auf Bestimmungen hingehalten, wonach niemand gehen darf, „der nach seiner Ausreise die Sicherheit des Landes gefährden könnte“. Im August dieses Jahres, nach einigem Druck der US-Regierung, durften Sus Frau und Sohn endlich ausreisen.

Die chinesische Regierung habe während seines China-Besuchs im November versichert, erklärte US- Außenminister James Baker, jeder könne das Land verlassen, der nicht wegen Verbrechen gesucht werde. Sie würden, wie er sagte, „einfach ein Visum erhalten, sobald die Formalitäten erledigt“ wären.

„Einfach“ war nicht ganz das richtige Wort für die mit der Visaerteilung verbundenen Formalitäten. Die Schwierigkeiten der Familie Su sind kein Einzelfall. Einreisebewerber vor den ausländischen Botschaften berichten, sie müßten zuvor ein chinesisches Ausreisevisum erhalten haben — und dazu gehört die politische Durchleuchtung ihrer Vergangenheit, entweder von ihrer Arbeitsstelle oder von den lokalen Behörden. Wer in irgendeiner Weise mit den Protesten von 1989 in Verbindung gebracht wurde, konnte sich den Antrag sparen.

Ein ehemaliger Student, der zum Studium der Theologie im Ausland zugelassen worden war, erhielt kein Visum. Begründung: „Unser Land braucht keine Religion.“ Der Druck zur Verhinderung der Ausreise ist nicht nur politischer Natur. Der Sumpf der Bürokratie ist so tief, daß in ganz China private Beratungsfirmen für Ausreisewillige aus dem Boden schießen.

China gehört auch zu den wenigen Ländern, die ökonomische Garantien verlangen, wenn Menschen zum Studium oder auch nur zu einem kurzen Besuch ins Ausland fahren. Nach der Abschlußprüfung an der Universität, so verlangen es die „Formalitäten“, muß man fünf Jahre für den Staat arbeiten, bevor man eine Auslandsreise beantragen kann. Wenn die Arbeitseinheit den Antrag unterstützen soll, muß man nachweisen, daß das Studium im Ausland für die Arbeit nützlich ist.

Wer ein Ausreisevisum beantragt, läuft Gefahr, alles zu verlieren, was er oder sie hat: Einige Arbeitseinheiten verlangen, daß man zuvor kündigt. Wird der Antrag abgelehnt, erhält man seine Arbeitsstelle nicht zurück. Zwei Dissidentinnen, die während der China-Visite Bakers festgehalten wurden, damit sie nicht mit dem US-Außenminister sprechen konnten, sind an den Ausreise-„Formalitäten“ gescheitert. Hou Xiaotian, eine Universitätsabsolventin, die mit dem eingesperrten Publizisten Wang Juntao verheiratet ist, erhielt den Bescheid, sie könne nicht zum Studium ins Ausland gehen, weil sie noch keine fünf Jahre für den Staat gearbeitet habe.

Die bekannte Journalistin Dai Qing, die ein Nieman-Stipendium für die Harvarduniversität erhalten hatte, bekam von ihrer Arbeitsstelle kein Unterstützungsschreiben.

Nach dem Besuch von Außenminister Baker war aus Chinas Außenministerium zu vernehmen, Hou und Dai könnten sich noch einmal um die Ausreise bewerben. Die Zeitung von Dai, 'Guangming Ribao', drängt sie inzwischen zur Kündigung, weil das ihrem Ausreiseantrag zugute komme. Die Behörden haben keine Zusagen gemacht, aber viele Beobachter sind der Meinung, daß Hou und Dai das Land bald verlassen können — natürlich nach „Erledigung aller Formalitäten“.

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