: Nicht nur zur Weihnachtszeit
■ Der Lebens- und Leidensweg Jesu Christi als Weg innerer Selbstbefreiung für den »modernen« Menschen
Warum Weihnachten? Viel wissen die meisten in unserer säkularisierten Zeit mit diesem alten Fest nicht mehr anzufangen. Die tradierten kirchlichen Formen der Feier erwecken in uns keine Feststimmung mehr.
Ein Alternative, um uns wieder ein persönliches Verständnis für dieses Mysterium entwickeln zu lassen, bieten alte, okkulte Vereinigungen wie die Rosenkreuzer oder die Theosophen. Die Rosenkreuzer gründeten sich im Mittelalter, um im Geheimen das Wesen des Urchristentums über die Zeiten zu retten. Die Theosophische Gesellschaft wurde im vorigen Jahrhundert von der russischen Mystikerin Helena Blavatsky gegründet.
Christi Geburt wird nicht zufällig zur Wintersonnenwende, der dunkelsten Zeit des Jahres, gefeiert. Durch die Geburt des Gottessohnes soll uns das neue Leben oder neue Selbsterkenntnis in die Herzen gebracht werden: Ein kleines Licht — in Form eines Säuglings — soll die finsteren Kräfte der Dunkelheit schwächen, die die Menschen im Winter näher zusammenrücken lassen: So können sie ihre Einsamkeit vielleicht besser ertragen.
Die Herbst- und Winterszeit beherrschen laut alten Weisheiten die kollektiven Kräfte, während die individuellen Kräfte in der Frühlings- und Sommerszeit das menschliche Leben regieren. Das Licht gelangt in der Zeit der Sommersonnenwende, Ende Juni, zur Blüte. Die Geburt einer neuen Individualität, die einhergeht mit erweiterter Selbsterkenntnis, kommt dann im Sommer zum vollen Ausdruck. So erneuern wir uns in jedem Frühjahr, gelangen zur vollen Blüte im Sommer, sterben im Herbst, und werden im Winter wiedergeboren.
Aber noch ein anderer Aspekt soll durch die Geburt des Menschensohnes verdeutlicht werden. Die kollektiven Kräfte haben auch einen Bezug zur Gesellschaft beziehungsweise zum Staat. Der Politiker, der ein individueller Ausdruck kollektiver Kräfte ist — als Synonym könnte man ihn Cäsar nennen —, besitzt in der Winterszeit seine größte Macht. Cäsar unterdrückt alles Individuelle durch seine Macht.
Und genau diese Allmacht wird durch ein kleines Kind gebrochen, damit der individuelle Mensch nicht Sklave für das Geimeinwohl bleibt. So wurde das tausendjährige Römische Reich durch einen einzigen (selbst-)bewußten Menschen zu Fall gebracht.
War dies ein kurzer »human-biologischer« Blick in das Mysterium der Geburt, so gibt es folgerichtig auch eine psychologische Sicht. Dazu müssen wir in die wahren Bedeutungszusammenhänge der Bibel einsteigen.
Sie ist mit astrologischen Symbolen durchzogen und mehr metaphorisch als wörtlich zu verstehen. So rücken viele Widersprüche — wie die jungfräuliche Geburt — in ein ganz anderes Licht: Mit Jesus beginnt laut den Rosenkreuzern das Fischezeitalter, das in der heutigen Zeit seinen Abschluß findet. Dem Zeichen der Fische (Fische steht für Glauben, Vertrauen, »ewiges Leben«) liegt die Jungfrau gegenüber.
Das heißt: Jede Wahrheit kann in der Subjekt-Objekt-Welt des Fischezeitalters nur dualistisch dargestellt werden. Die Wahrheit ist durch Sprache nicht ausdrückbar, weil sie jede Einheit in ein Subjekt und ein Objekt aufteilt. Das meinte Jesus, wenn er vom lebendigen Gesetz sprach; Wahrheit kann also demnach nur gelebt werden.
Und dieser Gegensatz zwischen Fische und Jungfrau beginnt schon mit der Geburt Christi. Sie kann nur durch eine »Jungfrau« geschehen. Die Jungfrau steht in der Astrologie für Reinheit, Gesundheit, mitmenschliches Dienen, aber genauso für Zweifel (diskursives Denken), Technik, also Know-how. Der Funken, der bei seiner Geburt in uns aufgeht, ist frei von allen Egobeschränkungen: Rein, gesund oder — jungfräulich. Er wird unsere körperlichen, seelischen und geistigen Krankheiten heilen. Deshalb wurde Jesus auch der Heiland genannt. Er besaß den Glauben an Gott, deshalb konnte er die »jungfräulichen« Energien der Heilung in vollendeter Form und Weisheit (Know-how) für andere Menschen einsetzen. Auch in der wunderbaren Brotvermehrung kommt diese Fische-Jungfrau-Symbolik zum Ausdruck. Übersetzt heißt dieses »Wunder« der kollektiven Bewußtseinserweiterung: Auch Jesus kann die neuen Wahrheiten des Fischezeitalters nur in dualistischer Form ausdrücken, also über zwei gegensätzliche Energien: durch zwei Fische (astrologisches Symbol Fische) und fünf Brote (die Jungfrau wird als Frau dargestellt, die in ihren Händen fünf Halme Getreide hält).
Außerdem kann sich die Geburt des Jesus- oder Geistfunken nur unter einfachen Bedingungen vollziehen — in einem Stall unter Tieren. Da der Sinn des Lebens dem Menschen nicht in voller Ego-Ausschmückung offenbart werden kann, muß er erst all seines »Schmucks« (seines Machtwahns und seiner Gier) beraubt sein, also nackt dastehen und sich über seine tierischen Anteile — das heißt über seine verkrüppelte, neurotische Seele — bei wachem Bewußtsein klarwerden. Da niemand freiwillig durch solch einen Prozeß geht, muß das Schicksal schon mit einigen Schlägen nachhelfen.
Auch Jesus war nicht frei davon, weil das zum Menschsein gehört; auch er ist vom Teufel in der Wüste versucht worden. Der Teufel steht hier für die »Wonnen« der materiellen Welt. Dann kann die Jesus-Kraft Einzug halten in die menschlichen Herzen. Und wachsen — ohne daß er gleich unbegrenzt über sie verfügen könnte. Sie müssen wachsen, sie müssen behütet und immer wieder geprüft werden, bevor sie in der Auferstehung Christi ihren Höhepunkt finden.
Zwischen der Geburt und der Auferstehung liegt aber als härteste Prüfung für die menschliche Seele der (Ego-)Tod (auf Golgatha): Ist der Mensch selbst im Angesicht eines so furchtbaren Todes noch voll Vertrauen auf Gott und die Auferstehung in ein neues Leben? Der schreckliche Kreuzestod soll symbolisieren, wie grausam der Ego-Tod ist — härter als alle physischen Tode. Wenn ein Mensch den Tod seines Egos erleidet, fällt er in eine bodenlose schreckliche Dunkelheit. Selbst Jesus hat gezweifelt (wieder kommt die Jungfrau ins Spiel), aber am Ende siegte sein Glaube (Fische).
Rudolf Steiner nannte den Lebensweg von Jesus ein Mysteriendrama der menschlichen Seele. Dieser Weg ist der Weg innerer Selbsterkenntnis und damit begleitet von großen seelischen Schmerzen. So muß er sein, denn: Wer trennt sich schon leicht von seinen liebgewonnenen Egoismen.
Nun soll der Lebensweg Jesus als Vorbild dienen für alle ihm nachfolgenden Menschen der nächsten 2.156 Jahre. (So lange dauert ein Monat Gottes oder Zeitalter.) Jetzt, zum Ende des Fischzeitalters, findet das Leben von Jesus in breiteren gesellschaftlichen Kreisen ein neues Verständnis. Das ist kein Zufall, denn ein neues Zeitalter (das des Wassermanns mit seinem oppositionellen Mitgestalter Löwe) steht vor der Tür.
So wird der Lebensweg Jesus zum Symbol — um in psychologischen Termini zu sprechen — für einen »neuen« freien Menschen, der sich seiner Verdrängungen und Neurosen bewußt geworden ist und sich aus seinen Verstrickungen befreit hat. oz
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen