: Eine Weihnachts- geschichte
■ Familie Tazlinksky
Familie Tazlinksky am Vorabend der Heiligen Nacht: die drei mickrigen Kerzen aus dem Second-Hand-Laden brennen müde vor sich hin, immer bemüht, die paar popligen Lamettafäden, die vom letzten Fest übriggeblieben sind, nicht zu versengen. Den Weihnachtsbaum — ein Geschenk eines anonymen Spenders — muß Vater Tazlinksky am ersten Feiertag an einen ebenso mittellosen Kollegen weitergeben. Jedes Jahr wächst sein Schamgefühl gegenüber den drei Kindern, mit seinen zwanzig Jahren Berufstätigkeit noch immer nicht in der Lage zu sein, aus eigener Tasche ein Bäumchen kaufen zu können. Die Tazlinksky-Kinder wurden zwar schon immer zur Bescheidenheit erzogen, aber alles hat seine Grenzen. Die fünfköpfige Familie nebst der immer nörgelnden Großmutter, dem roten Kater und dem ausgemergelten Kanarienvogel sitzt tapfer mit knurrenden Mägen im karg möblierten kalten Wohnzimmer.
In einer familieninternen Versammlung muß — es lebe das demokratische Weihnachtsfest! — darüber entschieden werden, ob man für das restliche Geld ein paar Kilo Kohlen oder einen Weihnachtsbraten kauft. Mutter und Vater Tazlinksky stimmen sofort zugunsten der Nahrung. Den Kindern bleibt in ihrer zusammengeflickten Kleidung nichts anderes übrig, als sich für die Eierkohlen zu entscheiden. Die maßgebende Stimme zur Mehrheit muß von Oma Tazlinksky kommen. Da sie leicht schwerhörig ist, muß alles noch einmal für sie wiederholt werden. Im fortgeschrittenen Stadium ihrer geistigen Verwirrtheit — sie lebt schon seit zehn Jahren bei den mittellos-chaotischen Tazlinkskys — will sie ihre Stimme auf jeden Fall für die Grünen geben. Auch der dritte Versuch, ihr zu erklären, daß es um Essen oder Kohlen geht, scheitert. Keiner wagt, ihr zu widersprechen. Selbst der Kanarienvogel hängt voller Ehrfurcht im angespannten Federkleid auf seiner Stange. Die drei kleinen Tazlinkskys haben Mitleid mit ihren Eltern und stimmen auch für den Weihnachtsbraten. Mit gemischten Gefühlen, die wenig Vorfreude aufkommen lassen, begeben sich alle zu Bett.
Am nächsten Morgen machen sich die Kinder auf den Weg zu Aldi, um einen kostengünstigen Braten zu ergattern. Sie müssen mit ansehen, wie sich Kollegen ihrer Eltern auf dem Boden der Tiefkühltruhe um die letzten Gänseflügel streiten. Ein Trost für die Tazlinksky-Kinder, nicht die einzige Familie zu sein, die Weihnachten mit arg begrenzten Mitteln bestreiten muß. Schließlich siegt der Hunger über das Solidaritätsgefühl, und eins der Kinder stiehlt einen Hasenrücken (Sonderangebot!), aus dem Korb eines Arbeitskollegen des Vaters. Die Schlange im Aldi ist an diesem Tag länger als sonst, und die Kinder kommen mit ihrer Beute erst bei Einbruch der Dunkelheit nach Hause.
Als sie die Wohnung betreten, bietet sich ihnen ein grausiges Bild: Mutter und Vater Tazlinksky sind in der Zwischenzeit in der kalten Behausung erfroren. Die kurzsichtige Großmutter hat zwei Kerzen am Weihnachtsbaum mit Schokoladenriegeln verwechselt und fühlt sich gar nicht wohl. Der Kanarienvogel ist verschwunden. Nur der rote Kater schnurrt zufrieden vor sich hin.
Die Moral von der Geschicht? Alle Tazlinkskys brauchen mehr Geld, damit nächstes Weihnachten besser ausfällt. Barbara Bollwahn
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