»Wenn der nächste Bus kommt, laufe ich davor!«

■ Letzter Teil unserer Serie »Gewalt gegen Kinder in Ost und West«/ Das Berliner Beratungsprojekt »NEUhland« berät suizidgefährdete Kinder

Christa Möller-Hömmen arbeitet in der Wilmersdorfer Beratungsstelle und Krisenwohngemeinschaft für suizidgefährdete Kinder und Jugendliche. Deren Name erinnert mit einem Wortspiel an die frühere Adresse in der Uhlandstraße: »NEUhland«. Hier begegnen sich Ende und Anfang. Denn der Wunsch nach dem kompletten Auslöschen der eigenen Person ist die vorerst letzte Etappe einer qualvollen Biographie. Andererseits ist der Selbstmordversuch der Schrei nach Leben, nach Hilfe. Die psychische Mißhandlung von Kindern wirkt ebenso zerstörend wie körperliche, und sie hat die gleichen Auswirkungen: die Würde und das Selbstwertgefühl des Kindes werden zerstört. So lange, bis es sich vielleicht selbst zerstört oder es zumindest versucht: Selbst-Mord.

Vielleicht ist es zunächst nur ein Anruf bei NEUhland, in dem äußerst verschlüsselt der Wunsch nach Hilfe geäußert wird. Mag sein, der junge Anrufer preßt dann doch heraus, daß er vollkommen verzweifelt ist und bereits Tabletten genommen hat. Oder aber es ist schon geschehen, und das Krankenhaus wählt nach einem Selbstmordversuch die Nummer der Beratungsstelle an.

Irgendwann sitzt dann ein junger Mensch in einem der grauen Sessel, und manchmal sieht Frau Möller- Hömmen mit einem Blick, wie sehr er oder sie sich quält: »Gerade Mädchen fangen schon Monate oder Jahre vor einem Selbstmordversuch damit an, sich selbst zu zerstören. Sie attackieren ihren Körper mit Scheren, Messern und Rasierklingen. Ich hatte gerade neulich den Fall einer Jugendlichen, die seit langem autoaggressiv und destruktiv mit sich umging. Beim Erstgespräch begegnete ich einem recht hübsch angezogenen, fein zurechtgemachten Mädchen, das total vernarbte Arme und Hände hatte, zum Teil mit ganz frischen Wunden.«

Solche Kinder oder Jugendliche, die Hand an sich legen, stehen unter enormem psychischem Druck. Seit langem schon stellen sie sich die Frage: »Existiere ich wirklich? Werde ich angenommen von den Eltern, den Erziehern, den Lehrern, der Umwelt?« Der Schmerz hilft ihnen, sich zu spüren: »Es tut weh, also bin ich.« Oder mehr noch: »Wenn ich versuche, mich umzubringen, wird endlich jemand auf mich aufmerksam.«

Derlei Handlungen kommen nicht aus heiterem Himmel, und sie rechtfertigen erst recht nicht den letzten, den perversen Vorwurf: Wie konnte das Kind uns das nur antun? Solche Sätze verweisen lediglich auf die Funktion, die das Kind in der Familie hatte: »Container«, »Toilette« für all das, womit seine Eltern nicht klarkommen. Eher wohl muß sich ein imaginärer Sigmund Freud vor das Kind stellen und fragen: »Was hat man dir, du armes Kind, getan?«

Was hat man dir getan, daß solch mörderische Gedanken in deinem kleinen Kopf existieren? Gedanken, auf die Taten folgen, die Christa Möller-Hömmen nur zu gut kennt: »Kinder unter zehn Jahren tun häufig Dinge, um sich selbst zu schädigen. Obwohl sie genau wissen, daß zum Beispiel Toilettenreinigungsmittel oder die Medizin der Oma äußerst schädlich sind, nehmen sie davon. Oder es gibt Fälle, in denen man uns berichtet, Kinder hätten ‘spielerisch‚ versucht, sich zu erhängen. Das Spielerische daran ziehen wir in Zweifel, denn es ist nicht normal, daß Kinder sich selbst Schmerzen zufügen. Wir haben hier sogar Anrufe von Kindergärtnerinnen gehabt, die uns auf Kinder aufmerksam machten, die sagten: ‘Wenn der nächste Bus kommt, laufe ich davor, ich will nicht mehr zu meiner Mama.‚«

Kinder, Jugendliche, die ihr Leben nicht länger für lebenswert erachten, gibt es in allen Stadtbezirken. Ihre Selbstmordversuche sind beileibe nicht auf ein bestimmtes soziales Milieu zugeschnitten. Die Tendenz zur Selbstzerstörung ist sogar eher in den bessergestellten Bezirken der Mittel- und Oberschicht zu registrieren.

In Kreuzberg, Wedding, Prenzlauer Berg oder Friedrichshain wird Gewalt in größerem Umfange ausagiert als in Zehlendorf oder Lichterfelde. Dort setzen Kinder und Jugendliche eher stumme Signale. Signale, die für die SuizidberaterInnen bei »NEUhland« allerdings nicht nur Reaktionen auf psychische Gewalt darstellen. Christa Möller-Hömmen: »Im Zusammenhang mit dem Selbstmordversuch gibt es häufig auch die Erfahrung, daß ein sexueller Mißbrauch des Kindes vorausging. Dabei geht es übrigens nicht nur um Mädchen, sondern es wird immer deutlicher, daß auch Jungen sexuell mißbraucht werden. Dieser Mißbrauch liegt dann in bezug auf den Selbstmordversuch oft schon Jahre zurück. Aktuell hat dann irgendeine Situation die alte Demütigung, das alte Trauma wiederbelebt und es zum Auslöser für den Suizidversuch gemacht.«

Qual, Angst. Suizid. Wieviel lieber würde das Kind die Liebe der Eltern spüren. Eine Liebe, die es mit all seinen Besonderheiten annimmt, die das Kind unversehrt wachsen läßt. Die Erfüllung dieser Sehnsucht gilt es einzuklagen.

Helma Fährmann, Schauspielerin, Regisseurin und anderes mehr beim Theater »Rote Grütze«, tut genau das. Vier Jahre lang hat sie mit ihrem Ensemble den Menschen klarmachen wollen, daß in der alltäglichen Realität der Kinder, aber auch der Erwachsenen soviel »Gewalt im Spiel« ist, daß sie krank macht. Schaut sie auf diese Jahre, auf all die Diskussionen mit dem Publikum bei den Aufführungen zurück, dann waren sie oft ein Kampf gegen Windmühlenflügel: »Die vier Jahre, in denen ich mit dem Stück durch Deutschland gezogen bin, haben mich überzeugt, daß ich in einem täterfreundlichen, frauen- und kinderfeindlichen Land lebe. Kinder werden von Müttern und Vätern mißbraucht, geopfert, betrogen. Mütter sind dabei Mittuende. Sie schweigen, wehren sich nicht, haben Angst. Sie halten nicht zum Kind, sondern im Zweifelsfalle zum Mann. Die Mütter sind in diesem Männerprogramm so eingebunden, daß sie kaum einen Ausweg finden.«

Helma Fährmann hat sich während der Vorbereitung zu Gewalt im Spiel, aber auch während der kürzlich zu Ende gegangenen Spielzeit verändert. Sie und ihr Team mußten durch eigene Widerstände und Verleugnungen hindurch. Doch wie klar war dann plötzlich ihr Blick, mit welcher Schärfe und Deutlichkeit lagen die Mechanismen der Gewalt vor ihnen. Wie richtig erschien ihnen plötzlich die These der Schweizer Psychotherapeutin Alice Miller in deren Buch Am Anfang war Erziehung: »Damit die Eltern spüren, was sie den Kindern antun, müßten sie auch spüren, was ihnen in der eigenen Kindheit angetan worden ist. Aber gerade das wurde ihnen als Kindern verboten.«

Klar wurde den Theaterleuten deshalb aber auch, welch einen langen und mühevollen Weg diejenigen gehen müssen, die für den Paradigmenwechsel kämpfen: vom »Mindermenschen« Kind zum »Kindermenschen«. Auf diesem Weg werden sie oft genug Gefühle aushalten müssen, die die Theaterfrau Helma Fährmann so formuliert: »Mit dieser Schärfe wahrzunehmen, in welchem Land ich lebe, das hat mich richtig krank gemacht. Ich habe gesagt: ‘Dem nächsten springe ich ins Gesicht.‚ Ich wußte nicht mehr, wohin damit. Angesichts der ganzen erwachsenen Verdrängungskultur so wenig Aussicht auf eine Änderung des Kinderlebens zu haben, das schnürt mir die Kehle zu.« Detlef Berentzen

Detlef Berentzen ist freier Autor und Journalist für Printmedien, Radio und Fernsehen sowie Redakteur der 'Zeitschrift für Kindheit‘ »enfant t.«