piwik no script img

Kleist und Rüben

■ B. K. Tragelehn inszeniert „Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei“ von Heiner Müller

Im August 1991 wurden die sterblichen Überreste des Preußenkönigs nach Potsdam in das Schloß Sanssouci zurückgebracht. Seit der Vereinigung Deutschlands ist Preußen nicht nur geographisch wieder ins Blickfeld geraten; den einen gilt die DDR als ungute Fortführung preußischen Untertanengeistes, die anderen schwärmen von Toleranz und Aufklärung, an deren Tradition sie ohne Bruch wieder anknüpfen würden, wenn sie nur könnten. So als habe der Wilhelminismus in der alten BRD ganz abgedankt, als habe er nichts zu ihrem Zustandekommen respektive der deutschen Teilung beigetragen; ungebrochener Etatismus auf der einen und verdrängter Etatismus auf der anderen Seite? Hochexplosiv.

Ein Greuelmärchen nennt Heiner Müller sein 1976 entstandenes Stück Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei. Friedrich hockt, verschwindend klein von Statur, neben seinem Vater Friedrich Wilhelm im Tabakskollegium. Gundling, Gelehrter, Kammerherr und Hofnarr, wird von der Herrenrunde gequält, sie begießen ihn mit Bier und urinieren über ihm; König Friedrich Wilhelm zwingt seinen Sohn, gleichfalls derart herbe Männlichkeit zu beweisen: „Ich kann nicht, Papa“ — „Er pißt aus den Augen“, sagen lachend die anderen.

Preußische Erziehung in Struwwelpeter-Manier: Freund Katte wird vor Friedrichs Augen erschossen. „Sire, das war ich“, sagt dieser und wird Soldatenkönig. Statt mit Puppen spielt er zunächst mit Zinnsoldaten, auf die er einschlägt, um anschließend ihren Versehrtheitsgrad auf einer Schultafel zu notieren. Später dirigiert er seine Soldaten, und es bleibt das gleiche Spiel; als sie tot umfallen, übergibt er sich. Ein gebrochener Mann, der nun von einer Frau gespielt wird: mit vornübergebeugtem Oberkörper, Dreispitz und Degen. Rollentausch: die Sächsin, die ihn um Gnade für ihren desertierten Mann bittet, wird entsprechend von einem kräftigen Mann mit Frauenperücke und Kleid verkörpert, der die kleine Friederike mal eben auf den Arm nimmt und in Embryohaltung wiegt.

B.K. Tragelehn hält sich genau an die Regieanweisungen Müllers, die mehr sind als szenische Vorgaben, Textbestandteile. Sie zu ignorieren, verändern oder ironisieren, getraut er sich nicht, er erweitert das überholt anmutende Instrumentarium um einige beliebige Szenen: Videoeinspielungen, die eine Kamerafahrt über die Ruinenstadt Berlin oder Porträts von Theatermitarbeitern zeigen. Auf den Bühnentod Friedrichs — ganz hübsch: mit offenem Mund sitzt der tote Monarch im Ohrensessel, als sei er eingeschnarcht — folgt die Videoaufnahme eines Adlerfluges (Preußen!), und dazu ertönt das Schubertlied des Erlkönigs.

Aufklärung und schwarze Romantik, Preußens Kasernen und die Psychiatrie: Friderizianischer Geist? Zeitgeist. Zeitgenossen: dem rezitierenden Schiller wird ein Sack über den Kopf gestülpt, und Voltaire ist ein Greis, der Zeuge wird, wie Friedrich den Traum eines Landes, wo die Orangen blühen, verwirklicht: per Dictum, das aus Rüben eben jene preußische Orange macht, die Voltaire als Souvenir in die Tasche steckt. Kleist ist auf der Suche nach Kohlhaas und sich selbst, Lessing ein Lessing-Schauspieler und gebrochener Mann; aus seinen Figuren rieselt das Sägemehl und der Sand, aus dem auch Lessing — nach einem riesigen Knall in Amerika, dem Land der pervertierten Freiheitsträume — sich hochrappelt, als Büste, die sich unter dem Beifall von Bühnenarbeitern und Kellnern zu den anderen marmornen Dichter- und Denkerstirnen schleppt.

Die Rückseite des Programmheftes zeigt den geköpften Lenin in Berlin-Friedrichshain (und das ist auch schon die einzige Anspielung auf die DDR): „Apotheose Spartakus ein Fragment“ heißt die letzte stumm ächzende Szene in Müllers Stück. Es scheint wie berufen, ein Zeitstück zu sein, ein altes und ein neues Kapitel gemeinsamer Geschichte genauer zu beleuchten. Auch B.K. Tragelehn, DDR-Regisseur, der viel im Westen gearbeitet hat, wäre geeignet, genau das zu tun, was er unterläßt. Müllers Geschichtsvisionen, seine Theatermittel zu entrümpeln; spannendes zeitkritisches Theater zu machen. Statt dessen legt er eine eher werkgetreue und sterile Arbeit vor. „Die Geschichte reitet auf toten Gäulen ins Ziel“, lautet ein anderer berühmter Satz Müllers in diesem Stück, der so oft zitiert wird, das man schon gar nicht mehr weiß, wo er herkommt. Die Gäule — bei diesem Rennen — sind längst überholt. Sabine Seifert

Heiner Müller: Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei. Regie: B.K. Tragelehn. Bühne: Helmut Brade. Mit Peter Brombacher, Rolf-Peter Kahl, Ruth Reinecke u.a. Maxim- Gorki-Theater, Berlin. Nächste Aufführung: 27.12.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen