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Unsere Geschichte bleibt tragisch

■ Jacques Delors, Präsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaft

Jacques-Yves Cousteau: Die osteuropäischen Länder haben die Barrieren niedergerissen, durch die sie seit fünfundvierzig Jahren von Westeuropa getrennt waren, und es hat sich ein Abgrund an gegenseitigem Unverständnis aufgetan. Ist die Politik der Gemeinschaft und ihre Hilfe, beispielsweise im Technologietransfer, besser als die Japans oder der Vereinigten Staaten?

Jacques Delors: Die Europäische Gemeinschaft leistet allein 78 Prozent der Hilfe in jeder Form, die die Länder in Ost- und Mitteleuropa erhalten. Hinzu kommt, daß wir durch die Öffnung unserer Märkte diesen Ländern Exporte ermöglichen und daß sie ihre Produktion auf diesem Weg den Anforderungen des Weltmarktes anpassen können. Die Exporte dieser Länder in die Gemeinschaft sind in zwei Jahren um 2,4 Milliarden Dollar gestiegen, während die nach Japan und in die Vereinigten Staaten leicht gesunken sind.

Man kann hier mit größeren Erfolgen als beim Technologietransfer in den Süden rechnen, weil die osteuropäischen Länder, selbst unter dem kommunistischen Regime, in den Entwicklungsprozeß von Industriegesellschaften eingetreten waren, sowohl im Produktionsprozeß wie in der Ausbildung der Menschen. Das eklatante Scheitern dieser Versuche hing mit der fehlenden Freiheit und damit auch fehlendem Unternehmungsgeist zusammen, aber auch mit der Vorherrschaft der Sowjetunion, die über den Comecon eine katastrophale Verteilung der Produkte erzwang.

Stephen Jay Gould: Die Technologie war bisher oft ein Faktor der Zerstörung (besonders als Kriegsinstrument) oder der Ausbeutung (durch Umweltzerstörung). Was können die Staatsmänner tun, damit die Wissenschaft ein positiver Faktor für die Menschheit wird?

Delors: Die führenden Politiker sind nicht nur für die Beherrschung der Technik verantwortlich. Wir müssen vor allem das Primat der Ethik wiederherstellen, die nicht nur eine Angelegenheit von Theologen oder Moralisten ist, sondern auch der Forscher. Es wird zu recht gesagt, daß wir das natürliche Kapital, das wir von den künftigen Generationen geliehen haben, wie gute Familienväter verwalten sollen. Aber dieselbe Argumentation gilt auch für das genetische Kapital des einzelnen und die Achtung seiner geistigen Überzeugungen. Hier beginnt die Verantwortlichkeit des Politikers. Er muß die Diskussion über Wissenschaftsethik in Gang bringen und daraus Lehren ziehen. Wir, die reichen Länder, haben es bis jetzt nicht geschafft, eine effektive und gerechte Weltwirtschaftsordnung zu schaffen.

Carl Sagan: Sollte die nationale Souveränität übergeordneten Zielen, wie etwa dem Schutz unseres Planeten und der menschlichen Gattung untergeordnet werden? Wenn ja, bis zu welchem Grad?

Delors: Unsere Epoche wird von einer zunehmenden Interdependenz zwischen Menschen und Nationen beherrscht. Nehmen wir nur ein Beispiel. Man kennt die verheerenden Auswirkungen der CO2-Emissionen auf die natürliche Umwelt und die Lebensbedingungen künftiger Generationen. Ist es vorstellbar, daß viele Länder sich nicht an dem Versuch beteiligen, diese Emissionen unbedingt zu verringern? Nein! Aber über welche Instrumente verfügen die internationalen Organisationen – etwa die UNO –, um alle Länder, ihren Mitteln und ihrer Schadstoffkapazität entsprechend, zum Handeln zu zwingen? Über gar keins, außer der Überzeugung. Wir müssen jetzt den Schutz des natürlichen und menschlichen Kapitals einbeziehen, wenn wir unsere Kosten und Nutzen berechnen.

Vitaly Goldanski: Hat die Wissenschaft nach Ihrer Ansicht der Menschheit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts genützt oder geschadet?

Delors: Wenn man vom Glück spricht, muß jeder für sich selbst antworten. Wenn man vom menschlichen Fortschritt spricht, dann würde ich sagen, daß die Wissenschaft den Menschen nicht daran gehindert hat, immer wieder neue Formen seiner Entfremdung zu entwickeln. Trotz der wissenschaftlichen Fortschritte bleibt die Geschichte tragisch.

Kenichi Fukui: Nie zuvor hat die Menschheit in einem Zeitalter so intensiver Kommunikation gelebt. Trägt nach Ihrer Meinung die Kommunikation zur Emanzipation oder zur Entfremdung der künftigen Menschheit bei?

Delors: Die Entwicklung der Kommunikation kann etwas sehr Gutes und etwas sehr Schlimmes sein. Etwas sehr Gutes, wenn sie zu einem besseren Verständnis unter den Männern und Frauen führt, die überall auf dieser Welt leben. Durch Reisen, durch das Fernsehen, aber auch durch die Übersetzung von Büchern und ihre Verbreitung kann das Gefühl, ein Weltbürger zu sein, gestärkt werden, können Vorurteile aufgelöst werden. Aber Kommunikation kann das Schlimmste werden, wenn die Macht der Medien so groß wird, daß sie Ereignisse hochspielen, die Emotionen der Fernsehzuschauer so manipulieren, daß weder die verantwortlichen Politiker noch die Intellektuellen Einfluß darauf haben. Das wäre der Triumph des Konsums von Ereignissen über das Wissen und die Kultur. Das wäre das Anbruch einer emotionalen Gesellschaft, eine Quelle von Spannungen und ein Rückgang an „Zivilität“.

Jacques Delors ist Jurist und Ökonom und bekam 1973 eine Professur für Unternehmensführung in Paris. Nach dem Wahlsieg der Sozialisten 1981 wurde er Minister für Wirtschaft und Finanzen und 1985 dann Präsident der EG-Kommission.

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