PRESS-SCHLAG: Schwindelgefühle
■ Beim Neujahrs-Skispringen in Garmisch-Partenkirchen erweist sich alljährlich der wahre Fan
Die Frage, was die Faszination der alljährlich stattfindenden Vierschanzentournee ausmacht, ist in letzter Konsequenz nicht zu beantworten. Vielleicht liegt es schlicht daran, daß sie als einzige Veranstaltung innerhalb des Genres vom deutschen Fernsehen live übertragen wird. Das Skispringen ist nämlich eine eindeutige Fernseh-Sportart.
Beim Neujahrsskispringen allerdings trennt sich die Spreu vom Weizen: Der gemeine Pseudofan entlarvt sich durch hartnäckiges Im-Bett-liegenbleiben oder bedient sich gar technischer Hilfsmittel, nicht ahnend, daß ein aufgezeichnetes Springen schlichtweg den Sinn der Veranstaltung untergräbt. Der wahre Liebhaber des Sportes hingegen quält sich nach meist nur wenigen Stunden Schlaf aus dem Bett, drapiert Kopfschmerztabletten, Vitaminsäfte und vielleicht sogar schon wieder ein kühles Bier auf den Beistelltisch und erlebt zur Belohnung nicht nur einen optischen Genuß.
Denn wie nirgends sonst kann man sich beim Neujahrsspringen seinen Helden nahe fühlen. Erst im Nachrausch läßt sich das leichte Schwindelgefühl am besten ermessen, das den Springer dort oben auf der Schanze packen mag, ist menschliches Leiden miterlebbar, darf man sich mit seinem Star auf einem Level fühlen — böse Zungen berichten nämlich immer wieder, daß die Skispringer (alle, nicht nur Matti Nykänen) vor ihrem Flug ganz gerne einige Gläschen Hochprozentiges zu sich nehmen.
Aber auch draußen vor Ort hat man den Wert des Trinkens durchaus erkannt: Keine Fernsehübertragung wäre denkbar ohne Horden fröhlich Fahnen schwenkender Norweger, deren Sportbegeisterung nur eine unzulängliche Tarnung ihres alljährlichen Alkoholtourismus ist. Aber nicht nur die nordischen Skifans, so wurde im vorletzten Winter klar, müssen alkoholbedingte Verluste schon mal hinnehmen: Drei vielversprechende norwegische Springer mußten nach einer Promillefahrt mit Unfallfolge ihre luftige Karriere auf immer beenden.
Dabei ist das Skispringen an sich doch eher eine dauerhafte und grundsolide Sache: Wann immer man es ansieht, kann man davon ausgehen, über die Jahre liebgewonnene Gesichter wiederzusehen, wird einem kaum zugemutet, sich urplötzlich an neue Namen gewöhnen zu müssen: Wladimir Breitschev, Horst Buhlau, Jens Weißflog — Menschen, mit denen man alt werden kann...
Aber dann wurde die Welt des Skispringens jäh erschüttert: Jan Bokloev entdeckte beim Versuch, einen Sturz zu vermeiden, den V- Sprungstil und bemerkte, daß er damit weiter flog als je zuvor. Fortan sollte nichts mehr so sein, wie es früher war, denn immer mehr Skispringer erprobten die neue Flughaltung, für die es in diesem Winter erstmalig nur noch geringe Punktabzüge gibt. So siegte beim ersten Springen der Vierschanzentournee in Oberstdorf mit dem erst 16 Jahre alten Finnen Toni Nieminen ein Vertreter der reinen V-Lehre, während die „Klassiker“ wie Dieter Thoma ziemlich hinterherflogen. Jens Weißflog wurde gar von einer Zeitung zum „Weißflop“ degradiert. Bei den Deutschen wie bei den Norwegern wird aber nicht daran gedacht, den Stil zu ändern, denn bis zum Beginn der Winterolympiade im Februar ist dafür schlichtweg keine Zeit mehr.
Auch in Garmisch-Partenkirchen dominierten vor 30.000 Zuschauern die V-Springer. Während die deutsche Mannschaft die Plätze 10 (Weißflog), 11 (Thoma), 13 (Nölke), 17 (Hunger), 20 (Scherer), 24 (Duffner) und 28 (Gebstedt) erreichte, machten den Sieg andere unter sich aus. Dem Österreicher Andreas Felder, der sich mitten in der Saison kurzfristig den V-Stil aneignete, gelang ein überraschendes Comeback, und er konnte Nieminen hauchdünn schlagen. Der Finne übernahm durch seinen zweiten Platz die Führung in der Weltcupwertung und liegt auch in der Vierschanzentournee vor dem dritten Springen am Samstag in Innsbruck an der Spitze. Der Amerikaner Jim Holland konnte ebenfalls vom neuen Stil profitieren und wurde hinter dem Schweizer Stefan Zünd Vierter.
Das Skispringen wird wohl auch weiterhin die Lieblings-Wintersportart bleiben, zumal es viele, viele Geheimnisse birgt, Fragen, die der dringenden Beantwortung harren. „Warum fällt nie jemand von der Sitzstange?“ — „Wie kann irgend jemand bei dem merkwürdigen Teil, das uns als „Windmesser“ vorgestellt wird, erkennen, woher der Wind weht?“ — „Warum tun die das?“
Daß der wahre Skispringfanatiker allerdings auch noch im Sommer schwer an den Rätseln des Sportes trägt, müssen gerade finnische Touristen öfter als andere erfahren, denn auf sie schießt immer mal wieder jemand zu, der nun endlich, endlich seine Chance sieht, das allergrößte Geheimnis von allen zu erfahren: „Wie spricht man Tuomo Yllipulli aus?“ Elke Wittich
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