piwik no script img

Die Nacht des Gürteltiers

■ »Erinnerung an das Feuer« von Eduardo Galeano in der Volksbühne

Warum hat ein Kaninchen lange Ohren? Es kam mit der Bitte zu Gott, größer sein zu dürfen, und dieser sagte, daß es ihm zuerst das Fell eines Tigers, eines Affen und die Haut einer Eidechse und einer Schlange bringen solle. Daraufhin sagte das Kaninchen dem Tiger, daß ein Wirbelsturm nahen würde und die einzige Rettung im Festbinden an einem Baum bestünde. Der Tiger ließ sich darauf ein und war damit sein Fell los. Dem Affen führte es vor, daß ein Messer am Hals angenehm kitzeln kann, und der Affe blieb bei dem ungeschickten Versuch, dies nachzuahmen, auf der Strecke: 2. Fell. Mit der Eidechse spielte das Kaninchen Ball, doch leider war der aus Stein und somit der Tod der Echse. Schließlich noch die Simulation eines schlafenden Kaninchenbratens, und auch die Schlange entging nicht ihrem Schicksal. Als das Kaninchen nun mit den Fellen und Häuten vor Gott trat, überlegte dieser sich, welche Dinge das kleine Tier wohl anstellen würde, wenn es noch größer wäre, packte es daraufhin an den Ohren und schleuderte es durch die Luft. Seitdem hat das Kaninchen lange Ohren.

Eduardo Galeano weiß noch viele solcher Geschichten in seinem Text Erinnerung an das Feuer zu erzählen, dessen Aufführung gerade in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg- Platz zu sehen ist. Die Zuschauer sitzen auf der Bühne des Theaters. Lateinamerikanische Musiker eröffnen diesen Abend mit Musik jenseits von El Condor Pasa und dem üblichen Anden-Kitsch. Ein Tänzer und eine Tänzerin, bemalt mit Körperschminke in Blau und Rot, bewegen sich langsam auf einem hohen Podest im Hintergrund.

Walfriede Schmitt und Ekkehard Schall betreten als Archäologen einen Sandkasten und gruppieren steinerne Fundstücke zu dem kreisrunden Emblem des Sonnengottes der Azteken. Sie erzählen nicht nur die Geschichte des Kaninchens, sondern auch viele andere Mythen der Indianerstämme Lateinamerikas über die Entstehung der Welt. So auch die Erzählung, daß der »erste Mann« die Technik der Kopulation bei den Affen studieren mußte, bevor er sich seiner Frau zuwandte, und daß der Mensch sich die Nacht vom Gürteltier entlieh, weshalb dieses Tier nun bei Tag schlafen muß.

Immer wieder mischen sich Musik, Gesang und Perkussion in die Erzählung, und durch einen Donnerhall bricht die westliche Welt in Gestalt von Kolumbus, Pizarro und Gefährten in den Alltag der Indianer ein. Nun beherrschen Schilderungen über die Grausamkeit der goldsuchenden Eroberer und historische Tatsachen die Szenerie. Die Tänzer hängen mit dem Kopf nach unten von der Decke, die Musik vermittelt die Bedrohung und Einsamkeit. Zum Schluß dreht sich die Zuschauertribüne um 360 Grad, vorbei an den auf die Wände projizierten Augen eines Indianerkindes. Die Drehung endet mit dem Blick in die leeren Sitzreihen des Zuschauerraumes. Das Orchester der Volksbühne spielt nun die Melodien, die vorher die lateinamerikanischen Musiker intoniert hatten, und die Tänzer sitzen in einem goldenen Käfig. Alejandro Quintana hat in diesem spartanischen Raum (Bühne: Martin Fischer) sensibel und ideenreich eine Sammlung von Mythen und historischen Fakten inszeniert. Tanz, Musik und Bildprojektionen werden sinnvoll eingesetzt. So entsteht nicht nur der Einblick in eine exotische Welt, sondern auch eine Atmosphäre des Versuchs der Verständigung. Nur Walfriede Schmitt und Ekkehard Schall haben Schwierigkeiten, sich in die Mentalität Lateinamerikas hineinzuversetzen: sie erzählen Mythen wie Anekdoten (und mit Brechtscher Distanz) und liefern Historie mit deutscher Nachdenklichkeit und Schwermut ab. Bei den zahlreichen Musikeinsätzen wirken sie alleingelassen, verlieren jegliche Spannung und werden privat. Offen bleibt auch die Frage, welche Beziehung diese »Archäologen« zueinander haben, sowie der Grund ihrer Schilderung, denn das wird alles nicht erzählt.

Trotzdem ist das Experiment einer anders gearteten Textpräsentation gelungen, was hauptsächlich an Ideenreichtum und Ästhetik und vor allem an den Tänzern und Musikern liegt. York Reich

Weitere Aufführungstermine: 11. und 12.1., 20 Uhr, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen