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In der Türkei ist der Terror chronisch

Die politische Liberalisierung stößt in der Kurdenfrage an ihre Grenzen/ Das Militär folgt seinen eigenen Regeln/ Ein Massaker in Kurdistan und ein Brandanschlag heizen die Debatte an  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Die Zahl der Toten in der Türkei steigt von Tag zu Tag. Dutzende von Menschen kamen allein in den vergangenen zwei Wochen im Zuge der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen in den kurdischen Gebieten und als Opfer von Anschlägen ums Leben. Die blutige Bilanz scheint jedoch den neuen türkischen Premier Süleyman Demirel nicht aus der Fassung zu bringen. Als der Ministerpräsident die Büroräume der Tageszeitung 'Hürriyet‘, die Ziel eines Bombenanschlages waren, besuchte, sprach er die Wahrheit aus, die alle Bürger kennen: „In unserem Land ist der Terror chronisch.“ Eine klare Diagnose — die Therapie bleibt im dunkeln.

Kurden Teil der Koalitionsparteien

„Demokratie“ und „Rechtsstaat“ sind die großen Versprechungen der neuen Koalitionsregierung unter der konservativ-liberalen „Partei des rechten Weges“ (DYP) Demirels und der „Sozialdemokratischen Volkspartei“ (SHP) Erdal Inönüs. „Gläserne Polizeiwachen“, ein Ende der Folter und eine politische Liberalisierung versprach Demirel dem Wahlvolk. Die ersten Schritte der Regierung waren beeindruckend. Das berüchtigte Gefängnis Eskisehir wurde geschlossen und die Koalitionsvereinbarungen sehen umfassende Strafrechtsreformen vor.

Fast schien es, als ob die Ära der neuentdeckten „Transparenz“ auch ein Ende des Bürgerkrieges in den kurdischen Gebieten einleiten könnte. Beifall erntete Demirel vergangenen Monat in der heimlichen Hauptstadt Kurdistans, Diyarbakir, als er die „kurdische Realität“ anerkannte. In den Reihen der SHP finden sich kurdische Abgeordnete, deren politische Heimat die prokurdische „Arbeitspartei des Volkes“ (HEP) ist. Nur weil die HEP aus formalen Gründen nicht zu den Wahlen zugelassen wurde, traten sie der SHP bei und kandidierten auf den Listen der Sozialdemokraten. Unverhofft sind oppositionelle Kurden nun auch Teil der Koalitionsparteien. Ein Umstand, der eigentlich Dialog statt Konfrontation fördern sollte.

Doch die Fronten in Türkisch- Kurdistan sind verhärtet und die ungelöste Kurdenfrage könnte letztendlich der Koalition und dem Programm politischer Liberalisierung den Todesstoß versetzen. Die „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK), die seit 1984 einen Guerillakrieg gegen den türkischen Staat führt, hat mittlerweile eine feste Basis unter der kurdischen Bevölkerung. Die blutige Repressionspolitik des türkischen Staates, die der Guerilla den Garaus machen soll, hat Millionen Kurden zu Sympathisanten der Guerilla gemacht. In Türkisch-Kurdistan gibt es keine Mitte zwischen türkischer Armee und Guerilla. Politik wird mit Waffen ausgetragen und die Bevölkerung ergreift stets Partei für diejenigen, die das Joch jahrzehntelanger staatlicher Unterdrückung abschütteln wollen.

Offenkundig wurde dies erneut am 24. Dezember bei der Beerdigung von getöteten PKK-Militanten in der Provinzstadt Kulp. Beerdigungen in Türkisch-Kurdistan sind stets öffentliche Demonstrationen wider die Staatsgewalt und Sympathiebekundung für die Guerilla. Ein Konvoi von 200 Fahrzeugen begleitete die Särge in die Provinzstadt Kulp. Im benachbarten Lice versammelten sich rund 8.000 Menschen, um an der Beerdigung teilzunehmen. Sondereinheiten der Armee schossen in die Menge. Dreizehn Menschen wurden getötet. Mit zivilem Widerstand protestierte die Bevölkerung in Türkisch-Kurdistan gegen das Massaker. Alle Läden blieben tagelang geschlossen. Die Abgeordnete Leyla Zana, die die Stätte des Massakers besuchte, erinnerte an das Versprechen der Koalition: „Innenminister Ismet Sezgin hat gesagt, daß unter keinen Umständen auf die Bevölkerung geschossen wird. Doch es wurde geschossen. Die Sondereinheiten haben die Weisungen der Regierung nicht anerkannt und ein Massaker veranstaltet. Woher nehmen sie das Recht, unschuldige Menschen zu morden?“

In der Tat scheint der Spielraum der Regierung eingegrenzt. Die Armeeführung bestimmt, wie in Türkisch-Kurdistan Krieg auch gegen Zivilisten geführt wird. Nach dem Massaker kam es zu einem bezeichnenden Gespräch zwischen dem Gouverneur von Diyarbakir, Muzaffer Ecemis, der öffentlich dem Beerdigungszug freies Geleit zugesichert hatte, und dem Regimentskommandeur Ismet Ayyildiz. Laut der Zeitschrift 'Yeni Ülke‘ soll der Oberst den Gouverneur zurechtgewiesen haben: „Das geht sie und den Minister nichts an. Von deren Sprache verstehen nur wir was. Ich nehme nur von meinen Vorgesetzten Weisungen entgegen.“

Nur einen Tag später zogen rund hundert kurdische Jugendliche mit Transparenten wie „Kurdistan wird das Grab des Faschismus“ durch die Einkaufsstraßen des Istanbuler Viertels Bakirköy. Banken, Geschäfte und Kaufhäuser wurden mit Brandbomben beworfen. Auf das Kaufhaus des Bruders des Ausnahmerechtsgouverneurs in Türkisch-Kurdistan, Necati Cetinkaya, hatten die Demonstranten es besonders abgesehen. Zwölf Menschen, unter ihnen auch Kinder, starben durch das Feuer, das von den Brandbomben ausgelöst wurde.

Der Tod unschuldiger Menschen führte zu einer Welle der Entrüstung. Die Täter waren Sympathisanten der PKK. Der Führer der PKK, Abdullah Öcalan, der sein Hauptquartier in der libanesischen Bekaa-Ebene hat, sprach davon, daß „patriotische kurdische Jugendliche“ auf das Massaker in Kurdistan reagiert hätten. Während Oppositionspolitiker wie der ehemalige Premier und Vorsitzende der Mutterlandspartei, Mesut Yilmaz, verdeckte kurdenfeindliche Äußerungen von sich gaben, bewahrte Premier Demirel im Zuge der chauvinistisch-nationalistischen Entrüstungswelle die Besinnung. „Die Ereignisse dauern seit sieben Jahren an. Wir haben einen Brand übernommen und versuchen, ihn zu löschen. Solange nicht alle Bürger akzeptieren, daß die Hände der Täter gebrochen werden, ist eine Lösung schwer.“ Ein indirekter Hinweis auf die Unterstützung, die die PKK in Türkisch-Kurdistan genießt. Wenige Tage später bekräftigte Demirel auf einer Pressekonferenz in Ankara seine Einschätzung: „Das Problem ist, daß diejenigen, die für das Blutvergießen verantwortlich sind, in der Bevölkerung eine Basis suchen und diese Basis leider auch finden. Die Bevölkerung, die diese Basis bildet, ist unschuldig.“

Schlägerei im türkischen Parlament

Unterdessen übte sich der türkische Generalstabschef Dogan Güres auf der Beerdigung eines durch PKK- Militante getöteten Offiziers in Aufpeitschung der Stimmung. „Wir werden ihn rächen. Sein Blut wird nicht auf der Erde liegenbleiben. Sie werden sehen. Sie werden sehen!“ sagte er publikumswirksam zu dem Vater des Getöteten. Die türkische Armee, immer noch ein Staat im Staate, grenzt den Spielraum der neuen Regierung ein. Türkische Kommentatoren befürchten — zwar nicht in ihren Kommentaren, sondern insgeheim — daß das Militär der neuen Regierung, die angetreten ist um die Gesellschaft zu entmilitarisieren, Knüppel zwischen die Beine werfen will.

Doch längst hat das kurdische Feuer auch die Fraktion von Demirels „Partei des rechten Weges“ erreicht. Die Generaldebatte im türkischen Parlament zur „inneren Sicherheit“, die dem Inhalt nach eine Debatte zur Kurdenpolitik des Staates war, endete in einem Eklat. Sie fand einen Tag nach dem Brandanschlag auf das Istanbuler Kaufhaus statt. Für die Fraktion der „Sozialdemokratischen Volkspartei“ sprach unter anderem der Abgeordnete Mahmut Alinak, ein Kurde, dessen eigentliche politische Heimat die „Arbeitspartei des Volkes“ ist. Alinaks Rede wurde unterbrochen, als er den Bürgerkrieg in Kurdistan folgendermaßen veranschaulichte: „Zwei unserer Jugendlichen, die miteinander verwandt sind, starben jüngst bei bewaffneten Auseinandersetzungen. Einer war Soldat, der andere PKK-Mitglied.“ Abgeordnete von Demirels „Partei des rechten Weges“ stürzten sich auf Alinak und stießen ihn von der Rednerbühne. Öffentlich prügelten Abgeordnete der einen Koalitionspartei auf Abgeordnete der anderen Koalitionspartei ein. Mit Mühe und Not beschwichtigte Demirel in der Sitzungspause seine Abgeordneten.

„Die PKK ist eine illegale Organisation und kann doch nicht im Parlament vertreten sein“, erregte sich der Abgeordnete Münif Islamoglu. In der Tat stehen große Teile der „Arbeitspartei des Volkes“ (HEP) der PKK nahe. Ehrengast bei dem Parteikongreß der HEP vergangenen Dezember war die Mutter des PKK- Führers Abdullah Öcalan, der von seinen Anhängern „Apo“ genannt wird. Abgeordnete der SHP, die aus der HEP kommen, waren beim Parteitag zugegen. Die Politkonstruktion ist verwirrend: Während in Kurdistan die türkische Armee Krieg gegen die PKK führt, unterstützen einige Abgeordnete, die der PKK nahestehen, die Koalition in der Hauptstadt Ankara.

Das zentrale Problem des Premiers zur Lösung der Kurdenfrage liegt wohl auch darin, daß er auf der kurdischen Seite keine Dialogpartner findet. Ein Dialog mit der PKK erscheint auf absehbare Zeit ausgeschlossen. Sie wäre für die Regierung sellbstmörderisch, zumal das Militär noch ein machtvoller Faktor ist. Doch außerhalb der PKK existiert buchstäblich keine Kraft, die nennenswerten politischen Einfluß in Kurdistan hat. So lautet die Devise Demirels Abwarten und Verharren.

Immerhin tut sich einiges unter dem Eindruck der politischen Liberalisierung. Ein „Kurdisches Institut“ soll in der Türkei gegründet werden. Erstmalig wird ein kurdisches Heldenepos, Mem u Zin in den Kinos anlaufen. Und das erste Mal in der 68jährigen Geschichte der türkischen Republik erschien legal eine Zeitung auf Kurdisch. 'Rojname‘ (Zeitung) heißt das Blatt, das am 29. Dezember erstmalig in einer Auflage von 50.000 Exemplaren erschien.

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