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Bewährung für Todesschützen gefordert

■ Plädoyer des Staatsanwalts im Prozeß gegen vier DDR-Grenzer: „Sie sind selbst Opfer des Systems geworden“

Berlin (dpa) — Im ersten Prozeß gegen vier DDR-Grenzer wegen Todesschüssen an der Mauer hat die Staatsanwaltschaft vor dem Berliner Landgericht für drei der vier Angeklagten eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung wegen Totschlags in einem minderschweren Fall gefordert. Nach rund vier Monaten Verhandlungsdauer sah es Oberstaatsanwalt Herwig Großmann als erwiesen an, daß die drei Beschuldigten Ingo Heinrich (26), Andreas Kühnpast (27) und Peter Schmett (27) gemeinschaftlich in der Nacht zum 6. Februar 1989 den 20jährigen Chris Gueffroy an der Berliner Mauer getötet haben. Für den vierten Angeklagten, Mike Schmidt (27), der einen Befehl zum Feuern gegeben hatte, verlangte die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von 20 Monaten auf Bewährung wegen Anstiftung.

Nach Ansicht von Großmann können sich die Beschuldigten nicht zu ihrer Rechtfertigung auf die DDR- Gesetze oder den Schießbefehl berufen. Die Angeklagten treffe aber die geringste Schuld, die eigentlichen Schuldigen seien „die früheren Machthaber“.

In seinem vierstündigen Vortrag betonte Großmann, daß das DDR- Grenzgesetz und der Schießbefehl die Todesschüsse nicht rechtfertigen können, weil sie „gegen fundamentale Grundsätze des menschlichen Zusammenlebens verstoßen“. Die Angeklagten hätten auch die Rechtswidrigkeit ihres Handelns erkennen können. Großmann verwies auf Aussagen der Beschuldigten, wonach sie „mit weißer Weste“ aus dem Grenzdienst nach Hause kehren wollten. Dies zeige, daß sie um die Rechtswidrigkeit der Schüsse wußten.

Der Staatsanwalt warf den Angeklagten vor, daß sie bei ihren Schüssen auf Gueffroy „sich den Todeserfolg vorgestellt“ und deshalb „bedingt vorsätzlich“ gehandelt hätten. Sie hätten den Tod aber nicht gewollt.

Für die Angeklagten spreche, daß sie „mit massenpsychologischen Mitteln zu blindem Gehorsam erzogen wurden“. Die Angeklagten seien keine Kriminellen, betonte Großmann, „sie sind von den Machthabern gelenkt worden und so selbst Opfer des Systems geworden“.

Am Mittwoch sollen die Plädoyers der Verteidigung beginnen.

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