Euphorisches Eritrea

Noch nicht einmal ein Jahr nach der Befreiung von der äthiopischen Herrschaft sehen manche Eritrea bereits als das zukünftige „Singapur Afrikas“. Optimismus und ein neues Selbstbewußtsein beherrschen das Land am Roten Meer, das seiner formellen Unabhängigkeit entgegensieht  ■ VON BETTINA GAUS

Vor einem Spielzeuggeschäft auf der Hauptstraße Asmaras drücken sich einige kleine Jungen die Nasen platt. Innen, im schummrigen Halbdunkel, kämpft der Besitzer Jesse Dobbins mit der Dekoration. Wenn nun eine der leuchtenden Kugeln mit dem Glitzerstaub im Schaufenster herunterfällt? Der US-Amerikaner, der seit 38 Jahren mit seiner italienischen Ehefrau in Eritrea lebt, hat viel Zeit, sich eine Lösung des Problems zu überlegen. Nur ein einziger Kunde betritt an diesem Nachmittag den Laden — ein junger Mann, der Geschenkpapier braucht. Das Geschäft läuft schlecht, doch Jesse Dobbins strahlt fröhliche Zuversicht aus: „Bald geht es aufwärts. Seit Frieden herrscht, ist schon so vieles besser geworden. Wir haben wieder Wasser, Elektrizität und Benzin. Und endlich keine Angst mehr. Während des Krieges hat sich nach Sonnenuntergang niemand mehr auf die Straße getraut, obwohl die Ausgangssperre erst um Mitternacht offiziell begann.“

Die Bevölkerung Asmaras genießt die neue Freiheit. Familien gehen bis spät in den Abend hinein spazieren, vorbei an erleuchteten Geschäften und geöffneten Restaurants. Eritreas Hauptstadt ist von den zerstörerischen Kämpfen verschont geblieben — in kopfloser Flucht hat die äthiopische Armee am 24.Mai letzten Jahres den Krieg verloren gegeben. Heruntergekommen sei hier alles, beklagten die EinwohnerInnen, nichts habe die äthiopische Verwaltung je repariert. Aber für jemanden, der hier nicht lebt, unterstreicht der bröckelnde Putz an Häuserwänden nur den malerischen Charme einer Stadt, die mit den blassen Farben ihrer Gebäude, dem hohen Kampanile, den kunstvoll angelegten Gärten und der wuchtigen Kathedrale im Zentrum gut nach Italien passen würde. Die Spuren der einstigen Kolonialmacht sind auch ein halbes Jahrhundert nach dem Ende ihrer Herrschaft über Eritrea nicht verwischt.

Erinnerungen an die Zeit, in der das Gebiet zu Äthiopien gehörte, möchten die meisten hingegen so schnell wie möglich auslöschen. Drei Jahrzehnte lang hat die Eritreische Volksbefreiungsfront (EPLF) für die Unabhängigkeit Eritreas gekämpft — der längste Bürgerkrieg in der Geschichte Afrikas. International fand sie dabei nur wenig Unterstützung, obwohl heute kaum noch jemand bestreitet, daß die Annektion der Provinz am Roten Meer 1962 durch Äthiopiens Kaiser Haile Selassie völkerrechtswidrig gewesen ist. Aber die strategische Bedeutung Äthiopiens schien den Weltmächten zu groß, als daß sie es über Eritrea zu einem Konflikt mit der Regierung in Addis Abeba hätte kommen lassen wollen. Und die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) fürchtete, ein international anerkannter unabhängiger Staat Eritrea würde die Diskussion um strittige Grenzen auf dem ganzen Kontinent anfachen und blutige Konflikte verschärfen.

An der Haltung der OAU hat sich nichts geändert. Aber heute steht sie auf verlorenem Posten. Kein Beobachter zweifelt mehr daran, daß die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in dem Referendum, das unter internationaler Aufsicht in eineinhalb Jahren stattfinden soll, sich für die völlige Unabhängigkeit entscheiden wird. Ohnehin scheint es sich dabei inzwischen um wenig mehr als eine Formalität zu handeln — die EPLF-Übergangsregierung hat bereits jetzt Meilensteine auf dem Weg zur Loslösung gesetzt. Wer nach Eritrea reisen will, braucht ein besonderes Visum. Am Flughafen von Asmara müssen Neuankömmlinge Einreiseformulare und eine Devisenerklärung ausfüllen. Ein Büro von „Eritrean Airlines“ wurde geöffnet, in dem allerdings vor allem Flüge von „Ethiopian Airlines“ gebucht werden können. Auch ändert die Gründung einer eritreischen Nationalbank nichts daran, daß der äthiopische Birr noch immer Zahlungsmittel ist.

Der Unterstützung der Bevölkerung kann sich die EPLF-Übergangsregierung sicher sein. Der blutige Bürgerkrieg hat die Eritreer zusammengeschweißt; es gibt kaum eine Familie, die nicht Tote zu beklagen hat. „Für die Freiheit!“ lautet die stets gleiche Antwort von Geschäftsleuten, von Barbesuchern, von Verwaltungsangestellten auf die Frage, wie sie in dem geplanten Referendum abstimmen wollen. Nicht selten lauert Haß unter der Oberfläche — Haß auf die Äthiopier, vor allem aber Haß auf den vor einem halben Jahr gestürzten äthiopischen Präsidenten Mengistu Haile Mariam. Hätte die EPLF auch so viele AnhängerInnen gewinnen können, wenn die kaiserliche Herrschaft fortgedauert hätte? „Unter Haile Selassie war das Leben hier nicht so schlecht“, meint eine Delikatessenhändlerin, deren Laden wie viele Gebäude in Asmara martialische Bilder siegreicher EPLF- Kämpfer zieren. „Selassie hat uns weitgehend in Ruhe gelassen. Mengistu aber hat alle Schlüsselpositionen mit Äthiopiern besetzt. Er hat uns wirklich versklavt.“ Neben ihr sitzt ihre alte Mutter, apathisch, versteinert. „Als Mengistus Soldaten vor 17 Jahren hierhergekommen sind, hat sie einen Schock erlitten. Seither ist sie geistig gestört.“

Der Krieg prägt das Weltbild. Die Grenzen zwischen Nationalbewußtsein und Nationalismus verlaufen in Eritrea fließend. „Wir stehen turmhoch über den Äthiopiern“, sagt ein Fahrer. „Sie sind uns in allem unterlegen, auch hier“, und er tippt sich an die Stirn. „Wir sind einfach zivilisierter“, glaubt ein Baugutachter. „Verglichen mit uns sind andere Afrikaner Tiere.“ Aber auch ausländische MitarbeiterInnen internationaler Organisationen sehen für Eritrea größere Entwicklungschancen als für irgend ein anderes Land des Kontinents. Von der Möglichkeit eines „afrikanischen Singapur“ spricht ein westlicher Wirtschaftsexperte. Hans Nilsson, der in der Hafenstadt Massawa für das UNO- Welternährungsprogramm arbeitet, prophezeit: „In zehn Jahren werden Sie in europäischen Geschäften Produkte mit dem Hinweis ,Made in Eritrea‘ finden, so wie heute Exporte aus Hongkong oder Taiwan. Die Leute sind entschlossen, ihr Land wieder aufzubauen, und sie wollen Erfolg haben.“

„Wir glauben an den Kapitalismus“

Ob der optimistische Schwung dieser ersten Nachkriegszeit sich wohl wirklich so grundlegend von der Euphorie unterscheidet, die die Bevölkerung anderer afrikanischer Staaten unmittelbar nach der Unabhängigkeit erfaßt hatte? Eritreische WirtschaftsexpertInnen verweisen auf den Fischreichtum vor der Küste, auf landwirtschaftlich ertragreiche Gebiete, auf Bodenschätze und auf die beiden für Äthiopien so wichtigen Hafenstädte Massawa und Assab. „Wir glauben fest an den Kapitalismus und an den freien Markt“, sagt Gabriel Fasil von der Finanzabteilung der EPLF-Regierung. „Wir sind dabei, sehr liberale Investitionsvorschriften zu erlassen. Wenn die in Kraft sind, werden Unternehmer nur so hereinströmen.“

Mit einem Jahresbudget von 300 Millionen Birr — nach offiziellem Wechselkurs weniger als 150 Millionen US-Dollar — rechnet die Übergangsregierung im kommenden Jahr. Eine winzige Summe, „aber das meiste Geld verschlingt in anderen Staaten die Armee. Dafür müssen wir nichts ausgeben“, sagt Fasil, der ebenso wie alle anderen EPLF- Mitglieder zwei Jahre lang ohne Gehalt arbeitet.

Aus vielen Guerillakämpfern sind Bauarbeiter geworden. Waffen tragen sie nicht mehr. Künftig wird auch die Zivilbevölkerung beim Wiederaufbau helfen. Männer und Frauen sollen zwei Jahre lang im Rahmen eines nationalen Arbeitsdienstes Straßen reparieren, Schulen und Krankenhäuser bauen. Auch gegen diesen Plan der Regierung regte sich kein Widerstand: „Viele von uns fühlen sich schuldig, nicht am Befreiungskampf teilgenommen zu haben“, sagt ein 32jähriger Mann, der erklärt, seiner kranken Mutter wegen nicht zur EPLF gegangen zu sein. „Wir sind froh, jetzt eine Chance zu haben, der Nation zu dienen.“

Es bleibt nicht beim Straßenbau — Dienst mit der Waffe gehört ebenso zum Arbeitseinsatz wie die Besichtigung von Schlachtfeldern und anderen „historisch bedeutsamen Stätten“. „Zivilisten müssen lernen, zu gehorchen. Wir sind ein armes Land. Alle müssen hart arbeiten, und das läßt sich nur über Bereitschaft zum Gehorsam erreichen“, sagt Tereste Michael, stellvertretender Leiter der EPLF-Erziehungsabteilung.

Regierungsvertreter betonen, die Ausbildung von Zivilisten an Waffen habe nichts mit der Furcht vor einem neuen Konflikt mit Äthiopien zu tun. „Wir fühlen uns militärisch nicht bedroht“, erklärt Yemane Ghebreab, Leiter der Informationsabteilung. Die Bevölkerung ist da nicht so sicher: „Wir trauen den Äthiopiern nicht“, sagt ein Mann, und ein anderer ergänzt: „Meles wird nicht für immer im Amt bleiben.“ Meles Zenawi, Äthiopiens neuer Präsident, hat versprochen, das Ergebnis des Referendums zu respektieren. Und: er hat sich bereit erklärt, 500 Millionen Birr, die widerrechtlich kurz vor der Niederlage von eritreischen Bankkonten nach Addis Abeba transferiert worden sind, zurückzuerstatten. 110 Millionen hat die EPLF- Übergangsregierung bereits erhalten.

Sie hat das Geld bitter nötig. Der Krieg hat ein furchtbares Erbe hinterlassen. Schon wenige Kilometer hinter Asmara, auf dem Weg nach Massawa, wird deutlich, welch schwere Wunden diesem Land geschlagen worden sind. Kleine, harmlos aussehende Löcher übersäen die gewaltigen Berge des Hochlandes — ehemalige Unterstände von Soldaten, abgestützt mit Eisenbahnschienen. Schienen, die nicht mehr verwendet wurden, säumen die Straße. Die Eisenbahn ist in diesem umkämpften Gebiet schon lange nicht mehr gefahren. Im Dorf Nefasit steht ein zerschossener Panzer, in Dongollo liegt ein Berg alter Helme. Häuserwände sind von Einschüssen durchlöchert.

Die Umweltschäden sind enorm

Weit schwerer noch aber wiegen diejenigen Folgen des Krieges, die nicht auf den ersten Blick zu erkennen sind. Die Ortschaft Ghinda liegt in einem fruchtbaren Hochtal. „Als ich ein Kind war, stand hier alles voller Obstbäume“, sagt Emmanuel Domenico, der nach 13 Jahren im Exil jetzt erstmals zu einem Besuch nach Hause zurückgekehrt ist. „Die Soldaten haben alle gefällt und als Feuerholz benutzt.“ Nicht nur in Ghinda: alle Berge seien früher mit Wald bedeckt gewesen, auch in der Ebene habe es Bäume gegeben. Jetzt wachsen nur noch Kakteen und niederes Buschwerk.

„Die Umweltschäden, die der Krieg verursacht hat, sind enorm“, klagt Tewolde Geressus von der EPLF-Hilfsorganisation ERA. „Die Vernichtung des Baumbestandes hat zu Bodenerosionen geführt und auch dazu, daß seit zehn Jahren der Regen nicht mehr regelmäßig fällt.“ 1990 seien 95Prozent der Ernte auf den Feldern vertrocknet, im letzten Jahr sollen es 75Prozent gewesen sein. Es wird geschätzt, daß rund 80Prozent der etwa 3,5 Millionen EritreerInnen noch geraume Zeit von Lebensmittelhilfe abhängig sein werden. „Auf die jetzt herrschende Euphorie wird Ernüchterung folgen“, warnt ein Diplomat. „Der Weg zum Erfolg ist viel schwieriger als viele jetzt glauben.“

Immerhin: es gibt hoffnungsvolle Zeichen für den Neubeginn. Preise für Lebensmittel sind rapide gefallen, seit alle Straßen wieder befahrbar sind. Zucker und die Getreideart Teff kosten nur noch die Hälfte, das Kilo Tomaten — sechs Birr in Kriegszeiten — ist jetzt für 1,50 Birr zu haben, für Kartoffeln werden statt acht jetzt zwei Birr verlangt. Für eine Krankenschwester, die etwa 600 Birr im Monat verdient, oder einen Automechaniker, der es auf etwa 500 Birr bringt, ist das aber immer noch teuer.

Von außen kommt Hilfe — nicht in dem Umfang, den sich viele EPLF-Politiker wünschen, aber immerhin. Es fehlt an Milchpulver, Öl und Zucker, aber zumindest Getreide wird in Massawa in ausreichender Menge angeliefert. Jeden zweiten Tag verläßt ein Konvoi mit etwa 50 Lastwagen der Welttransportorganisation den Hafen, von dem aus ganz Eritrea und Teile der äthiopischen Provinz Tigray mit Hilfsgütern versorgt werden. Noch vor wenigen Monaten wäre das undenkbar gewesen: Der Hafen wurde ebenso wie die Stadt bei Kämpfen schwer beschädigt. Von sechs Kränen funktionierte nur einer, die Gabelstapler waren kaputt, es gab zu wenige Traktoren und Anhänger. Heute sind die notwendigsten Einrichtungen repariert oder nachgeliefert.

Hans Nilsson vom Welternährungsprogramm, der früher selbst Kapitän und Hafenmeister gewesen ist: „In einem Monat haben wir 75.000 Tonnen Ladung bewegt. Das ist ein absoluter Rekord für Massawa. Während der Zeit der äthiopischen Besatzung haben sie es nie geschafft, so viel Ladung zu bewältigen.“ Aufbruchstimmung auch in der Stadt: Seit einem Monat wird in der Zementfabrik von Massawa wieder gearbeitet. Jetzt können zerstörte Häuser wieder aufgebaut werden. Als erstes wurde eine Schule fertig.

Gegen das Programm der EPLF- Übergangsregierung läßt sich kaum argumentieren: Der freie Wettbewerb soll gefördert, der soziale Ausgleich darüber aber nicht vernachlässigt werden. Beim Wiederaufbau wird den besonders schwer vom Krieg betroffenen Gebieten Priorität eingeräumt. Schulbesuch und medizinische Versorgung sind kostenlos. Eine Verfassung ist noch nicht ausgearbeitet worden, weil, wie Eden Fasil von der Justizabteilung sagt, das Ergebnis des Referendums nicht vorweggenommen werden soll. Grundwerte aber werden schon jetzt betont: Demokratie, Pressefreiheit und Pluralismus sollen herrschen, die Gleichberechtigung von Mann und Frau verankert werden, ethnische und religiöse Diskriminierung darf es nicht geben.

„Bis jetzt ist das alles die reine Theorie“, sagt ein ausländischer Beobachter. „Die EPLF hat überhaupt keine Ahnung, was beispielsweise freie medizinische Versorgung kosten wird und wie die finanziert werden soll. Sie ist noch keine Regierung im klassischen Sinne, sondern eine siegreiche Befreiungsbewegung. Und so wird sie von den Leuten auch gesehen; deshalb gibt es jetzt in der Siegeseuphorie auch noch keine Opposition.“

Aber die EPLF-Übergangsregierung erntet nicht nur Beifall, sondern auch Kritik: International verurteilt wurde vor allem, daß kurz nach dem Sieg 80.000 äthiopische Soldaten mit ihren Familien nach Tigray verfrachtet und dort ohne Nahrung und medizinische Versorgung zurückgelassen worden waren. Rechtfertigungen für diese Aktion finden eritreische Regierungsvertreter genügend: Sie hätten sich vergeblich an das Internationale Rote Kreuz um Hilfe gewandt — was letzteres bestreitet. Es hätte nicht einmal genug Nahrung für die eritreische Bevölkerung gegeben, es sei unmöglich gewesen, die Soldaten zu versorgen. Es sei weit humaner, ehemalige Feinde nach Hause zu schicken, als sie etwa in Lager zu sperren oder gar Massenexekutionen vorzunehmen. Freundlich und im Ton verbindlich werden diese Argumente vorgebracht.

Aber stählern schwingt in den Gesprächen stets noch etwas anderes mit: die feste Überzeugung, niemand habe das Recht, Eritrea zu kritisieren, der seine Bevölkerung im Kampf um die Unabhängigkeit 30 Jahre lang allein gelassen habe. Die Annäherung Eritreas an die internationale Staatengemeinschaft ist für beide Seiten ein schwieriger Hürdenlauf.