: "Versöhnler" im Abwind
■ Bulgariens Präsident Schelew verfehlt die absolute Mehrheit
„Versöhnler“ im Abwind Bulgariens Präsident Schelew verfehlt die absolute Mehrheit
Schelju Schelew, vormals Reformkommunist, dann demokratischer Dissident im Bulgarien Todor Schiwkows, hatte in der kurzen Zeit seiner Präsidentschaft dafür gesorgt, daß das Land von den Furien des Nationalismus und der Hexenjagd auf alles vormals Kommunistische verschont blieb. Mehrfach, zuletzt im November vergangenen Jahres, warnte er davor, ethnische Konflikte anzustacheln und den Prozeß der Integration der Völker Bulgariens zu gefährden. Die Tatsache, daß er jetzt im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit verfehlte, kann den wirtschaftlichen Drangsalen der Übergangsperiode allein um so weniger angelastet werden, als die Indikatoren für den vergangenen Dezember erstmals seit 1989 wieder eine positive Tendenz anzeigten. Bulgarien, das vergessene Opfer des Golfkriegs, scheint trotz Massenarbeitslosigkeit, Inflation und gleichzeitiger Knappheit an Lebensmitteln und Brennstoffen auf dem Weg der Erholung. Was Schelews Sieg in der ersten Runde verhinderte, war die unheilvolle Allianz der Ex-Realsozialisten mit einer entfesselten, gegen die türkische Minderheit gerichteten nationalistischen Strömung. Noch am Vorabend der Wahl klagte der Kandidat der Sozialisten, Welko Walkanow, den Präsidenten an, das Land an die Türken verschachern zu wollen. Vieltausendstimmige „Bulgarien, Bulgarien!“-Rufe antworteten ihm.
Auch im eigenen Lager, der „Union demokratischer Kräfte“ (UDF), war der auf nationalen Ausgleich bedachte Kurs Schelews nicht unumstritten. Der Vorsitzende der populistisch-nationalistischen Gewerkschsaft Podkrepa, Trentschew, hatte sich öffentlich zur Stimmenthaltung bekannt. Nach wie vor erheben sich auch im Regierungslager jede Menge Stimmen, die die Illegalisierung der „Bewegung für Rechte und Freiheiten“ (BRF), des politischen Arms der türkischen Minderheit, fordern. In der Gesellschaft vermischen sich Ängste vor einem türkischen Separatismus, vor einem Ausverkauf ans türkische Kapital, nicht zuletzt vor Forderungen türkischer Bulgaren auf Rückerstattung des Eigentums, das sich die Nachbarn während der Zeit ihrer vorübergehenden, erzwungenen Emigration angeeignet hatten. Schon bei den Wahlen zur Nationalversammlung war die politische Polarisierung in den Siedlungsgebieten der türkischen Minderheit weit forgeschritten: Der BRF standen die nationalistischen Wendesozialsiten gegenüber — die UDF stürzte auf den dritten Platz ab.
Schelews Kurs der Verständigung wird auch dadurch geschwächt, daß die Rechtssprechung des Obersten Gerichts zur Frage der Minoritäten von politischen Konjunkturen abhängt, die Positionen einer Richterschaft widerspiegelt, die noch vor der Wende ihr Amt antrat. Sollte Schelew im zweiten Wahlgang bestätigt werden, so wird er nach dem Vorbild des „Runden Tisches“ einen Diskussions- und Entscheidungsprozeß in Gang setzen müssen, der der Demagogie des nationalistisch-populistischen Lagers den Boden entzieht. Christian Semler
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