: Nicht wirklich tot
■ Guiberts Laster
Es gibt Bücher von notorischen Schnellschreibern, wie Guibert einer war, die sich lesen, als hätte ein weltverlorener Poet darüber drei Jahre lang meditiert. Vice (Laster) ist so. Darin beschreibt Guibert Dinge und — nach einem intermittierenden Teil mit Fotos des Autors — Orte. Es fängt harmlos an, mit Kämmen und Q-Tips, und geht dann über zum Fliegenpapier („Das Fliegenpapier, dies winzige und unnütze Hinrichtungsinstrument, das die Fliegen anzog, statt sie zu verjagen, wurde vom Ultraschall verdrängt“) und zur Vakuumpumpe.
Die Texte sind weniger im Gestus der Versenkung als in dem des Festhaltens einer flüchtigen Assoziation geschrieben: Die Vakuumpumpe „ist in den Vorführungen der vergleichenden Physik zum Gesellschaftsspiel geworden. Unter die Glasglocke setzt man einen lebenden Voel, dann schließt man sie und achtet darauf, daß die Lamellen und Gummidichtungen gut abschließen, um eine vollständige Isolierung zu gewährleisten. Verzweifelt flattert der Vogel im Glaskäfig, auf den sich die trüben Augen der Teilnehmer heften, und als die knochige, säurezerfressene Hand des Physikers das Rad in Bewegung setzt, und die Luft sich durch die Pumpe verdünnt, schwimmt der Vogel nicht einmal mehr in diesem entleerten Raum, er kann nicht mehr fliegen, ist direkt auf den Boden des Geräts gepreßt, sein Herz und die Elfenbeinkügelchen seiner Augen zerspringen, seine Knochen renken aus, und aus der Glocke zieht man, im Pfeifen der Dekompression, ein staubiges und knochiges Häufchen Federn, das auch ein bißchen flüssig ist.“
Es ist der geile, darum so genaue Blick des alleingelassenen Fetischisten, auch in den Fotos. Er erwischt die Dinge in dem Moment, wo sie — wenn der normale Betrachter sich gerade abwendet — anfangen, sich zu regen. Sind sie wirklich tot — Leiche, Puppe, Wachsabguß? Beunruhigend an den Fotos ist auch, daß sie keine Legenden haben. Das Buch gehört leider zu den schlecht broschierten, denen man erst den Rücken brechen muß, bevor man sie lesen kann. thc
Hervé Guibert: Vice. Editions Jacques Bertoin, Paris 1991, cirka 35Mark.
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