Die Vernichtung der irakischen Kurden

Mit einer Aktion gigantischen Ausmaßes, genannt „Anfal-Kampagne“, organisierte das irakische Regime im Jahre 1988 die Vernichtung eines Großteils der Kurdenbevölkerung des Nordiraks. Die Dörfer wurden systematisch entleert, Hunderttausende von Menschen deportiert und nahe der saudischen Grenze in Massengräbern verscharrt. Von der kurdischen Kultur sollte nichts übrigbleiben. Der irakische Oppositionelle und Buchautor Samir al-Khalil hat erstmals Dokumente aus dieser Zeit einsehen können. Ihn interviete  ■ NINA CORSTEN

taz: Was haben Sie erfahren, als Sie Ende letzten Jahres in den Nordirak reisten?

Samir al-Khalil: Der Grund für meine Reise in den Irak war kein politischer. Ich wollte etwas über ein ungeheuerliches Verbrechen herausfinden, von dem ich denke, daß es enorme Konsequenzen für die Zukunft des Iraks haben wird — nicht zuletzt für die territoriale Integrität dieses Staates. Ein Verbrechen, das schwerwiegende moralische Fragen im Hinblick auf die arabische politische Kultur der Gegenwart aufwirft. Es wurden ungefähr 4.000 — viertausend! — kurdische Dörfer ausradiert, die meisten im Jahre 1988, während der sogenannten „Anfal- Kampagne“.

„Anfal“ — was ist das?

„Anfal“ ist der Name einer Sammlung von Versen im Koran. Das ist für sich schon sehr interessant— aber ein ganz anderes Thema. „Anfal“ bedeutet „Beute“, „legitime Beute“, die zu nehmen man durch die Gesetze der Religion berechtigt ist. Der Beutezug ist erlaubt, er ist „halal“.

Worauf ich hinauswill, ist, daß kein einziger Araber bislang auch nur ein Wort über die Zerstörung von beinahe 4.000 kurdischen Dörfern geschrieben hat. Und jetzt haben wir meiner Meinung nach Beweise für ein Massaker an 100.000 bis 300.000 Kurden, die alle 1988 während dieser „Anfal-Kampagne“ getötet wurden. Eines Tages wird man ihre Leichen in Massengräbern in der irakischen Wüste nahe der saudischen Grenze finden, westlich der Stadt Samawa.

Diese Kampagne richtete sich nicht gegen Kämpfer, sondern gegen unbewaffnete Menschen. Ja, es stimmt, einige haben sich an bewaffneten Aktionen entlang der iranisch- irakischen Grenze beteiligt, aber diese Kampagne war nicht gegen solche Aktivitäten gerichtet. Sie hatte einen anderen Zweck: die Vernichtung des gesamten bäuerlichen Lebens der Kurden im Nordirak.

Sie richtete sich nicht gegen die kurdischen Städte, sondern ausschließlich gegen die Dörfer. Die kurdische Frage sollte ein für allemal aus der Welt geschafft werden. Es handelte sich um eine ganz systematisch angelegte, bürokratisch organisierte Kampagne.

Es wurden befestigte Sammelstellen eingerichtet, die ich auch besucht habe. Von dort wurden die Leute in Konvois aus geschlossenen Militär- Lkws abtransportiert, die früher unter anderem aus der DDR eingeführt wurden.

Während der ersten Phase der Kampagne, die im Februar 1988 begann, haben sie alle Dorfbewohner mitgenommen, dazu wurden in großen Zahlen kurdische Söldner eingesetzt. Die Dorfbewohner wurden umzingelt, festgenommen und zu diesen Sammelstellen gebracht. Dort wurden sie nach Frauen und Kindern auf der einen und Männern auf der anderen Seite getrennt.

In den Frühzeiten von „Anfal“, also im Februar, März und April 1988, verschwanden ausschließlich die Männer. In den Dokumenten werden sie offiziell die „Verschwundenen der Anfal-Kampagne“ genannt. Ich habe diese Bezeichnung auch in Akten über einzelne verschwundene Personen gefunden. Die Frauen und Kinder wurden in Lager im Nordirak gebracht. Ich habe solche Lager besucht. Aber in der Endphase der „Anfal-Kampagne“, die auf arabisch „Chatimatul-Anfal“, also „End-Anfal“ genannt wird — sie hat vermutlich im August 1988 begonnen und war die schlimmste Phase der Kampagne —, wurden alle umgebracht.

Sie wurden in die Wüste nahe der saudischen Grenze gebracht, in die Gegend westlich von Samawa. Es wurden Gruben ausgehoben, in jede Grube kamen ungefähr hundert Menschen und wurden dort erschossen. Und dann kamen Bulldozer und haben die Gruben geschlossen. Eines Tages wird man diese Gruben finden.

Überall im Nordirak trifft man heute Leute, die Angehörige verloren haben. Niemand weiß genau, wie viele es sind. Aber es gibt Hinweise, die von Ali Hassan Madschid selbst stammen, dem vom Irakischen Revolutionsrat ernannten Oberkommandierenden dieser Kampagne (im August 1990 zum Gouverneur des besetzten Kuwait ernannt, heute irakischer Außenminister — d.Red). Während der Verhandlungen zwischen der irakischen Regierung und den Kurden über ein Abkommen ist er ja mit den kurdischen Führern zusammengetroffen. Bei einer solchen Gelegenheit haben die kurdischen Unterhändler das Thema „Anfal“ auf den Tisch gebracht, weil sie etwas über das Schicksal der Verschwundenen wissen wollten. Daß die Kampagne stattgefunden hat, wird von der Regierung ja gar nicht bestritten; es handelte sich um eine öffentliche Kampagne. Nur was dann mit den Kurden passierte, wurde geheimgehalten.

Madschid hat wütend reagiert, denn die Kurden sprachen von 200.000 bis 250.000 Menschen, die Patriotische Union Kurdistans sprach von 182.000 Menschen. Er sagte damals: „Was soll das alles? Es können auf gar keinen Fall mehr als 100.000 gewesen sein.“ Daraus schließen wir, daß es sich mindestens um 100.000 Menschen handeln muß.

Wie wurden die Dörfer zerstört?

Erst sind kurdische Söldner, die Einheiten der irakischen Armee angehörten, in die Dörfer gegangen. Sie haben die Bewohner beruhigt, es würde ihnen nichts passieren, und sie dazu gebracht, ein paar Sachen einzupacken. Dann haben sie sie zu diesen Sammellagern gebracht. Anschließend ist die irakische Armee in die Dörfer eingerückt, hat die Häuser mit Dynamit gesprengt und die Ruinen anschließend mit Bulldozern eingeebnet. Sie haben sogar die Brunnen mit Beton gefüllt, Friedhöfe wurden plattgewalzt. Manche von den früheren Dörfern erinnern an archäologische Fundstätten. Wenn man einen Stein hochhebt, findet man plötzlich Fetzen von Kleidern.

Es hat ihnen nicht gereicht, zu zerstören und dann einfach alles so liegenzulassen. Sie haben vielmehr eine große Anstrengung unternommen, alles vollständig zu vernichten. Und nicht nur ein paar Dörfer. Sie haben die gesamte bäuerliche Zivilisation von Irakisch-Kurdistan zerstört.

Wo lagen die zerstörten Dörfer?

Man kann drei Phasen unterscheiden, soweit ich das bisher beurteilen kann. Zunächst haben sie ihre „Kampagne“ auf das irakisch-iranische Grenzgebiet konzentriert. Der sogenannte Sicherheitsgürtel, der nach dem Abkommen von Algier [iranisch-irakischer Grenzvertrag von 1975] eingerichtet worden war, wurde enorm vergrößert, indem die kurdischen Dörfer in dieser Region systematisch zerstört wurden. Das wurde die erste „Anfal“-Phase genannt.

Dann war die Region Kirkuk an der Reihe, wo die Bewohner ja schon seit langem zwangsweise umgesiedelt wurden, um diese Gegend zu „arabisieren“. Gegen dieses Gebiet richtete sich „Anfal“ also dann, das wurde offenbar als die „zweite Phase von Anfal“ bezeichnet.

In der dritten Phase ging es dann gegen die Dörfer im Grenzgebiet zur Türkei. Nicht nur direkt an der Grenze. Es betraf tatsächlich das gesamte ländliche Gebiet von Irakisch- Kurdistan.

Das geschah zu einer Zeit, als die irakische Armee im Krieg gegen den Iran militärische Erfolge zu verzeichnen hatte. Seit 1987 hatte sich der Krieg ja zu ihren Gunsten gewendet. Damals hatten sie schon begonnen, Chemiewaffen einzusetzen. Das erste und das fünfte Korps, also ein ganz erheblicher Teil der Armee, war im Nordirak stationiert. Sie benutzten die Armee, um die „Anfal- Kampagne“ durchzuführen.

Wurde die Kampagne offiziell mit Verweis auf den Krieg mit dem Iran begründet?

Ja, offiziell haben sie sich auf den Krieg bezogen. Sie gaben dauernd Erklärungen über die „Kampagne“ ab, auch im Rundfunk. „Die heroische Anfal-Operation“, dieser Ausdruck wurde verwendet, „jetzt beginnen wir die erste Phase der heroischen Anfal-Operation“ und so weiter. Das Wort „Anfal“ wurde zu einem Teil des irakischen Vokabulars. Es ist ein altmodischer Begriff, der in der modernen Sprache eigentlich keine Verwendung mehr fand, außer im Zusammenhang mit dem Koran. Dann kam der Begriff plötzlich dauernd in den Programmen von Radio Bagdad vor. Wir wußten irgendwie grob, worum es dabei ging, aber keiner wußte etwas Genaues.

Wenn Sie sich erinnern: Im August und September 1988 konzentrierte sich das Interesse der internationalen Medien für kurze Zeit auf das Schicksal der Kurden, denn plötzlich tauchten Massen kurdischer Flüchtlinge im Iran und in der Türkei auf. Und plötzlich hörte man nichts mehr darüber. Ich weiß noch, wie die ersten Berichte über den Chemiewaffeneinsatz kamen und die Leute in Massen über die iranische Grenze und in die Türkei flohen.

Aber jetzt wissen wir, was wir damals nicht gewußt haben, was wir aber vielleicht hätten wissen sollen. Als die Kurden in den Dörfern verstanden, was passiert, rannten viele weg, so schnell sie konnten, und manche schafften es tatsächlich bis in den Iran, andere hielten sich in den nordirakischen Bergen versteckt, um zu warten, bis die Armee wieder abzieht, denn das war ja nicht der erste Überfall der irakischen Armee, den man erlebte. Nur diesmal schien es schlimmer als sonst. Diejenigen, die damals in den Dörfern geblieben sind, waren es, die von der „Anfal- Operation“ getroffen wurden.

Es ist merkwürdig, daß die Medien damals lediglich auf die Giftgaseinsätze in Halabja reagierten und alles übrige ignoriert haben.

Es sah aus, als sei „Anfal“ Teil des Krieges, es sah nach den ganz normalen Schrecken des Krieges, den üblichen Kriegsverbrechen aus. Es ist gut, daß wenigstens über Halabja berichtet wurde. Im Gegensatz zu Halabja jedoch hatte „Anfal“ die Qualität einer geplanten, bürokratischen, routinierten Vernichtungsaktion, an deren Ausführung eine Menge Leute beteiligt waren, Mitglieder der Armee und viele Kurden. So viele Kurden hätten sie nie mitnehmen können, wenn sie nicht eine Menge Kurden an der „Operation“ beteiligt hätten. Die Kurden wurden ja nicht im Nordirak umgebracht, sie wurden über riesige Entfernungen transportiert. An einem Ort, den ich besucht habe, standen 86 Lkws, die für den Transport der Kleider der Opfer benutzt worden waren. Es war eines der Lager. Es war zerstört. Davor lagen Tonnen von Kleidern. Das Lager lag an der Südspitze von Irakisch-Kurdistan, ungefähr hundertzwanzig Kilometer von Bagdad entfernt. Man hat mir berichtet, daß die Armee sich vor neun Wochen von dort zurückgezogen und die Wagen dort zurückgelassen habe. Ich ging zwischen diesen riesigen Haufen von Kleidern umher, ich sah Berge von verrottenden Schuhen, Kleidern und Papieren, ich fand das Algebra-Buch eines Kindes, einen Roman, eine kurdische Ausgabe des Koran. Das waren die Habseligkeiten von Leuten, die während der „Anfal-Operation“ getötet wurden.

Ist Ihnen bekannt, ob und wie nichtkurdische Iraker auf all das reagiert haben?

Ab jetzt wird das sicherlich ein großes Thema werden. Ich kann das nicht einfach ignorieren. Ich werde ein Buch darüber schreiben. Man muß sich damit befassen. Viele Fragen müssen beantwortet werden. Die Verantwortlichkeit muß geklärt werden, und die betreffenden Personen müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Diese Kultur muß sich selbst die Frage stellen, warum sie dazu geschwiegen hat und wie das alles passieren konnte.

Es gibt ja auch das Problem: Was weiß man, was weiß man nicht? In einem bestimmten Sinne habe ich nichts gewußt, und doch hätten wir es wissen müssen. Man weiß, was man wissen will. Das ist kompliziert: Man weiß etwas nicht, was man hätte wissen sollen. Das sind schwierige moralische und philosophische Probleme der arabischen Kultur. Auf die will ich auch zu sprechen kommen. Man darf das alles nicht dem Vergessen preisgeben.

Jeder im Nordirak weiß von „Anfal“. Die Leute sprechen von ihren Familien, die sie durch „Anfal“ verloren haben. Jeder spricht darüber. Der Begriff ist zu einem selbstverständlichen Teil der Sprache geworden. Und wenn wir vom Irak als einem Staat sprechen — ich weiß nicht, ob man soviel Leid vergessen kann.

Aber was ist 1988 unter den nichtkurdischen Irakern geschehen? Wie Sie selbst sagen, ist „Anfal“ ja keine Geheimaktion gewesen. Wir haben uns hier als Nachfahren der Generation der Nazizeit auch gefragt, wie unsere Eltern behaupten konnten, nichts gewußt zu haben.

Ja, Sie haben recht. Erst jetzt können wir etwas darüber sagen. Erst jetzt, wo wir die Beweise, diese Dokumente, die Aussagen, wie die des Jungen, sichten und durchdenken, sind wir plötzlich in der Lage, zurückzutreten und zu sagen, schaut alle her, schaut, es ist etwas ganz Entsetzliches geschehen. Manchmal ist es doch so. Man durchlebt etwas, aber man hat keine Ahnung von seinen Ausmaßen.

Jeder Kurde im Nordirak kann eine Geschichte erzählen. Seine einzelne Geschichte. Aber die Summe dieser Geschichten ist unbekannt. Niemand hat sie bisher erfaßt, niemand hat sie verstanden. Sie ist nicht Teil des Bewußtseins.

Das, was in Deutschland passierte, ist heute weltweit ein Teil des Bewußtseins. Aber es hat Jahre gedauert, bis es soweit war. Wir haben es hier mit einem ähnlichen Problem zu tun.

Lassen Sie mich abschließend noch anmerken: Das Ausmaß dieses Verbrechens übersteigt das Vorstellungsvermögen, es ist nicht nur eine „normale Grausamkeit“, sondern es handelt sich hier um ein äußerst komplexes Geschehen. Und es wirft ganz neue moralische Fragen auf, denen sich die arabische Gesellschaft und insbesondere die Iraker stellen müssen. Sie müssen sich jetzt fragen, wie das alles hat geschehen können, genauso, wie die Deutschen das tun mußten. Die Fragen, die Sie sich in Deutschland stellen mußten, müssen wir uns uns jetzt in der arabischen Welt stellen.

Wir können nicht so tun, als ob das alles nicht passiert ist, und wir können nicht beschließen, einfach wegzusehen. Arabische Schriftsteller und Intellektuelle unserer Generation müssen durch diesen Schock einen neuen Weg finden, über ihre Gesellschaft und ihre eigene Rolle nachzudenken.