: Litzmannstadt — das ist Lodz
■ Die Ausstellung »Unser Weg ist Arbeit — Das Getto in Lodz 1940-44« im Martin-Gropius-Bau
Das größte Getto Europas entstand in Lodz 1940. Über vier Jahre haben hier, von der Außenwelt isoliert, Menschen gelebt und gearbeitet, für die ohnehin das Todesurteil schon ausgestellt war. Immer neue kamen, unter anderem aus Berlin deportiert. Immer neue wurden in die Vernichtungslager abtransportiert. Unser einziger Weg ist Arbeit: die Ausstellung benutzt als Titel einen Propagandaspruch des »Ältesten der Juden« im Getto Litzmannstadt, Chaim Rumkowski. Eine wahrlich tragische Gestalt, in der Zeit des banalen, alltäglichen Bösen, in der es für die Tragödie kaum Platz gab. Max Scheler definiert die Tragödie als eine Auswahlsituation, in der wichtige Werte geopfert werden müssen, damit andere Werte gerettet werden — oft vergeblich geopfert.
Diese Rechnung ist ungeheuer schwierig. Und eigentlich haben wir, die wir die Hölle der Shoah nicht durchgegangen sind, überhaupt kein Recht, sie zu erstellen — im Lodzer Getto überlebten mehr Menschen als in den anderen, vielleicht mehr als aus allen anderen Gettos zusammen. Das heißt, die »Kollaboration« Rumkowskis in Lodz hat sich »gelohnt«, und das Heldentum im Warschauer Getto hat sich »nicht gelohnt«. Ich würde diese Sätze nie schreiben, wenn ich mit einem lebendigen (sic!) Erfolg dieser Kalkulation nicht persönlich gesprochen hätte. Arnold Mostowicz, 78 Jahre alt, ein Arzt im Lodzer Getto, hat ein langes und fruchtbares Leben hinter sich. Er erzählt, wie letztes Jahr in Israel sich ein Jahrgang der Abiturienten getroffen hat, der unter diesen unfaßbaren Umständen der Versklavung, des Hungers und Terrors die gymnasiale Ausbildung abgeschlossen hat. Sie tanzten, sangen und freuten sich des Lebens. Uns plagen natürlich andere Bilder: die der Deportierten, Vergasten, von den Juden selbst ausselektierten Mitmenschen. Joshua Sobol zeigt in seinem Stück Getto, das in Wilna spielt, eine scheinbar ähnliche Situation: Selbstselektion in Erwartung eines Wunders: auf die Front, in der Hoffnung, daß man einige retten kann, wenn man viele opfert.
Rumkowski und seine Mitarbeiter im Lodzer Getto haben jedoch etwas viel Ehrgeizigeres unternommen: sie wollten den Völkermördern eine — die einzige! — Logik aufzwingen, die den Irrationalismus der Vernichtung überbieten konnte. Sie machten sich nützlich: die schier unglaubliche Leistung des Gettos Litzmannstadt für die Front und für die Wirtschaft (mit dem ehrwürdigen Josef Neckermann an der Spitze) konnte den Wahnsinn nicht stoppen. Doch konnte sie ihn abbremsen, verlangsamen.
Das Getto existierte in Lodz bis August 1944. Zu diesem Zeitpunkt war die Rote Armee schon an der Weichsel und das Warschauer Getto seit achtzehn Monaten dem Boden gleichgemacht. Non violence gewinnt meistens auf der logischen Ebene: einem scheinbaren Grundsatz wird etwas entgegengehalten, was entweder noch grundsätzlicher ist (so taten Gandhi, Mandela) oder es werden die herrschenden Grundsätze ad absurdum geführt (Solidarność in Polen).
Stanislaw Lem in seinem Essay Die Provokation (übrigens als eine Rezension von einem nichtexistierenden Buch über die Endlösung als Erlösung geschrieben) beweist, daß ein Nutzen aus dem Judeocid nicht zu ziehen war: dieser Massenmord war teuer, bedeutete eine sinnlose Verschwendung wichtiger Ressourcen und seine Ziele (Vernichtung des europäischen Judentums) konnten auf eine wirtschaftlichere und weniger grausame Weise erreicht werden. Wenn sich die Nazis für dieses unfaßbare Verbrechen entschieden haben und es auf eine bürokratische und meistens des Hasses und Grausamkeit im alltäglichen Sinne beraubte — und deshalb noch schrecklichere — Weise durchgeführt haben, müßte etwas viel Wichtigeres die Ursache für diese Entscheidung gewesen sein.
Lem behauptet, daß der Völkermord an der jüdischen Nation eine stellvertretende Tat für den Mord an Gott gewesen sei, wobei sich die ästhetische Dimension des Kitsches und die ethische Dimension des Bösen — in der Banalität und peniblen Genauigkeit der Ausführung — überlagern. Auf der einen Seite benutzt man ständig nur Euphemismen, wenn es um das Verbrechen geht, auf der anderen glaubt man an eine stellvertretende Vernichtung des Bösen, aber auch der moralischen Autorität des Gottes. Die Mörder, die wehrlose Menschen in die Gaskammern schickten, brauchten eine — wenn auch kitschige — Begründung für diese ungeheuren Taten, sie mußten an die eigene Rolle als Erlöser glauben, der die Welt vom Schlechten befreit. Gerade deswegen war und ist diese Ideologie so gefährlich — insbesondere in Deutschland.
Interessanterweise sind fast alle KZ-Mörder Deutsche und nicht etwa Freiwillige, die sich in vielen Ländern auch zur SS meldeten. Und wenn wir von einem Ukrainer — Iwan dem Schrecklichen — hören, dann ist er eben ein Sadist, ein Ungeheuer, ein Monster. Und damit ein verständliches — und für die Theorie, nicht für die Opfer — »beruhigendes« Phänomen. Viel schlimmer sind in der Tat die »Eichmanns« gewesen, die auch heute wieder eine interessenlose Mordwut gegen die Verkörperung des Schlechten vollziehen können — gegen Asylbewerber, Afrikaner oder Polen. (Übrigens aber auch andere »Schuldige« wie den Treuhandchef.)
Eine wirkliche »Entnazifizierung« ist in Deutschland insofern noch nicht abgeschlossen, als daß man mit ihr auch eine gewisse »Entdeutschung« durchführen müßte: Die Perfektion, die moralischen Ansprüche und die Gründlichkeit müssen anscheinend auch eine eigene Kehrseite in den erschreckenden »Tugenden« haben, die bei der Stasi und den Mauerschützen genauso wie bei den Skins und Neonazis blühen. Ich lebe hier und fühle mich nicht nur betroffen, sondern auch mitverantwortlich für die moralische Katastrophe dieser Nation. Durch das Schweigen wird sie aber nicht beseitigt und durch das Töten — wie sich das die RAF vorstellt, die mit der Stasi zusammengearbeitet hat — nur fortgesetzt.
Die nüchternen Dokumente, die Fotos und die Tagebücher aus dem Lodzer Getto machen auf mich einen sehr realistischen Eindruck. Erinnern an all das, was ich von der Geschichte dieses Martyriums und dieser Verbrechen durch schon gesehene Bilder »weiß«. Wie ein Schock wirken jedoch die — erst 1987 auf dem Antiquitätenmarkt in Österreich aufgetauchten — Farbdias. Aus nicht ganz klaren Gründen — wahrscheinlich als Werbefotos, um Produktionsaufträge für die Gettos zu gewinnen — von deutschen Verwaltern angefertigt, zeigen sie eine präparierte Wirklichkeit. Keine Toten, keine Kinder, kein Elend, keine Wohnräume der Gettobewohner. Alles beschönigt. Oder verschwiegen. Wie jenes Vernichtungslager Chelmno, wo die Arbeitsunfähigen vergast und kremiert wurden. Der Hunger. Die Krankheiten. Die mörderischen Gaswagen. Der Tod. Piotr Olzowka
»Unser einziger Weg ist Arbeit — Das Getto Lodz 1940-1944« Ausstellung im Jüdischen Museum, Abteilung des Berlin Museums im Martin-Gropius-Bau, Stresemannstraße 110, 1/61 bis 22. 3. Öffnungszeiten: montags-donnerstags 10-20 Uhr, freitags bis sonntags 10-22 Uhr. Katalog: 48 DM
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