: Selbstbilder und Angst
■ Frankreich: Medienskandal um Guibert-Film
Hierzulande gab es mal einen Medienskandal, als bei der ARD ein Mitarbeiter die Neujahrsansprache des Kanzlers mit der des Vorjahres vertauschte. Ein aktueller Skandal in Frankreich ist komplizierter. Der private Sender TF1 hat einen Film kurzfristig abgesetzt. Jetzt begreift keiner genau warum, niemand fühlt sich schuldig und alle sind betroffen.
Aus dem Programm fiel ein Selbstporträt des aidskranken Schriftstellers Hervé Guibert, der sich im Dezember 1991 das Leben nahm. Der Film Die Scham oder Die Schamlosigkeit entstand im Sommer 1990 mit einer Cadcam. Guibert inszeniert sich, sein Leben in und mit der Krankheit. Auch das Bild nutzt er — wie seine Sprache — zur fiktionalen Wiederholung konkreter Erfahrungen. Stilisiert, exhibitionistisch, extrem narzißtisch, aber auch poetisch und „wahrhaft kinematographisch“ lautet das Urteil. Die privaten Kanäle winken dennoch ab. Neun Monate nach seiner Fertigstellung nimmt TF1 ihn zum 17.Januar ins Programm. Am 9.Januar erhalten der Intendant von TF1 und der Präsident des Conseil supérieur de l'audiovisuel (CSA, eine Art Medienkontrollrat) einen Brief der Vorsitzenden des Conseil national du Sida (CNS, eine staatliche Organisation für Prävention und ethische Fragen im Zusammenhang mit Aids). Sie äußert den Wunsch, den Film im Rahmen einer privaten Vorführung noch vor der Ausstrahlung zu sehen. TF1 reagiert nicht. Am 16.1. wird in einer medizinischen Zeitschrift befürchtet, die Ausstrahlung des Films könne einen „dramatischen Effekt“ haben. In der Zwischenzeit hat auch der CSA Ansprüche auf eine Vorbesichtigung. Am Sendetag gibt der CNS dann ein Kommuniqué heraus: Der Film sei ein rein persönliches Dokument, ohne irgendeinen Informations- oder Aufklärungswert und kein generalisierbares Beispiel für das Leben HIV-infizierter Personen. Fast gleichzeitig entscheidet der Sender über seine Absetzung.
Niemals habe man das gewollt oder gefordert, empört sich der CNS, lediglich die „psychologischen Effekte“ des Films habe man — im Hinblick auf die besondere Sensibilität anderer HIV-Patienten — kennenlernen wollen. Die für die Absetzung Verantwortliche stellt fest, sie habe dem Film jede Polemik ersparen wollen und die Forderungen von CNS und CSA seien widersprüchlich und vage gewesen. Der Medienkontrollrat schweigt. Immerhin: neuer Sendetermin ist der 30.Januar.
„Keiner will diesen Film. (...) Man muß ja glauben, daß diese Bilder Angst machen!“ hat Guibert vergangenen Oktober in einer Fernsehsendung bemerkt. Fragt sich nur wem. Barbara Häusler
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