: Todessüchtiges Österreich
Gerhard Roth beendet mit der „Reise in das Innere von Wien“ und der „Geschichte der Dunkelheit“ seinen Zyklus „Die Archive des Schweigens“ ■ Von Gerhard Mack
Als Ascher wegen eines Kunstfehlers, der ihm im städtischen Krankenhaus unterlaufen ist, aufs Land zieht, wird er gleich zur Jagd eingeladen, und einen Tag später bietet ihm ein Dorfbewohner ein Gewehr an: „Auf hundert Schritte können Sie damit einen Menschen töten. Es ist nur ein Beispiel.“ Später sterben drei Menschen, und man jagt nach dem Mörder. Die Bewohner des Landstrichs der Kärntner Grenzregion leiden unter Entbehrungen und Gleichförmigkeit, sie leben halt miteinander, Aggressivität und Fatalismus berühren sich. Der stille Ozean hat nichts mit der Naturidyllik alternativer Projekte aus dem vorletzten Jahrzehnt zu tun. Der Roman von 1980 eröffnet Gerhard Roths Archive des Schweigens, einen — zählt man die Nebentexte nicht mit — auf sieben Bände angewachsenen Zyklus zur Präsenz des Todes und zum Weiterleben der Vergangenheit im Österreich der Gegenwart. Was als akribische Fiktion die todestrunkene Winterreise, die den Autor seinerzeit einem größeren Publikum bekannt gemacht hatte, fortsetzte, hat mit Eine Reise in das Innere von Wien und der Geschichte der Dunkelheit jetzt einen Abschluß gefunden. Der Lebensbericht des Wiener Juden Karl Berger und die Fahrten zu ausgesuchten Orten der Unterwelt kennzeichnen die alte Römer- und Habsburgerstadt als die Nekropole des Landes, wenn nicht gar des alten, 1806 zu Ende gegangenen „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“. Doch der Schrecken, den diese Gänge in die Irrgärten der Geschichte freisetzen, gilt der Gegenwart: Sie setzt die jahrhundertealte Tradition der Todesverfallenheit über die NS-Greuel in die Institute fort, die im Sinne Foucaults die spiegelnden Ränder der Gesellschaft bilden.
Das Männerobdachlosenheim im zwanzigsten Wiener Gemeindebezirk, im Volksmund die „Hitlervilla“ genannt, verwahrt die „Unberührbaren einer Gesellschaft, die alles wegrationalisiert und saniert“. Indem Roth ihre Tagesabläufe beschreibt, entwirft er die Umrisse einer „Pathologie der bürgerlichen Ordnung“, die die Ausgegrenzten ein zweites Mal für die Projektion der eigenen Todeswünsche mißbraucht. Diese Perspektive bestimmt die Rundgänge durch das pathologisch-anatomische Museum, den „Narrenturm“, und die Leopoldstadt. Die Präparate von Mißbildungen und die gehäuteten Menschen — der von Ludwig Fels hervorgeholte „Soliman“ ist da nur das bekannteste Beispiel — werden zum Inbegriff einer mißgebildeten Gesellschaft, die im Doppeladler der Monarchie ihr Symbol hatte. Das Wiener Untersuchungsgefängnis mit seinen Hinrichtungsräumen und das von Leo Navratil geleitete Künstlerhaus in Gugging, in dem die Vernunft „schläft“, sind weitere Beispiele für den Zirkel der Normalität und ihrer Opfer.
Dem offiziellen Selbstverständnis des Landes geht Gerhard Roth in den beiden großen Essays über den Stephansdom und das heeresgeschichtliche Museum nach. Sie beeindrucken besonders durch die assoziative Verflechtung von Geschichtsreliquien und Gegenwart zum Mosaik einer Mentalität. Da wird das nationale Wahrzeichen zu einem Tempel der Nekrophilie und die Anlage ganzer Stadtviertel zum Ausdruck militärischer Erfordernisse. Immer wieder scheint unter dem diffusen Hang zur Morbidität eine Tradition sehr verschlungener und deshalb mystifizierter Machtpolitik von Kirche und Habsburger Monarchie auf.
Der Rundgang durch die alte Leopoldstadt erfährt im letzten Band seine Vertiefung durch die Lebensgeschichte Karl Bergers: eine Familiengeschichte als Todesgeschichte, die von privaten Verlusten bis zur nationalsozialistischen Ausrottung der Wiener Juden reicht. Berger berichtet von diesen Vorgängen ohne Anklage und Selbstmitleid in einer einfachen Sprache, aus der der Terror jedes Gefühl herausgebrannt hat. Er erzählt von der Quälerei orthodox- jüdischer Mitschüler, von nationalsozialistischen Lehrern und der Niederschlagung der Arbeiterbewegung. Er beschreibt Geschäfte, Synagogen, Straßen und Wohnverhältnisse der alten Leopoldstadt, dem früheren Hauptwohngebiet der Juden in Wien. Politische Ereignisse stehen neben Alltäglichem, die Gebräuche der Kindheit sind erwähnt wie die das Trottoir bürstenden Juden nach Hitlers Einmarsch. Bergers Odyssee, die mit dem „Anschluß“ begann, bedeutet privates Leid und spiegelt die Geschichte seines mit Pogromen und Heimatlosigkeit verfolgten Volkes. Er lebt in England, sucht vergeblich seiner Jugendfreundin in die USA nachzureisen, wechselt etwa zwanzigmal die Arbeit, kehrt von Israel enttäuscht zurück und kämpft im Zweiten Weltkrieg auf seiten der Alliierten. Als er nach Wien zurückkommt, spürt er den alten Antisemitismus, und in der fremd gewordenen Stadt will niemand mehr an „früher“ erinnert werden.
Die Tier- und Menschenjagden an der jugoslawischen Grenze haben am Ende von Gerhard Roths Arbeitsprojekt in der Vernichtungsjagd auf ein Volk ihr Gegenstück und ihre Vergangenheit. Die vier Romane wurden mit drei journalistischen Bänden fortgesetzt, die — wenn auch noch so detailbesessene und mit unzähligen Fotografien untermauerte — fiktive Verarbeitung der erlebten Realität wich Genres, die dem Dokumentarischen verhaftet sind, bis hin zur Kulmination im Bericht eines Opfers selbst. Je mehr die wahrgenommene Realität vor die dichterische Verarbeitung trat, desto deutlicher wurde die politische Dimension des ganzen Zyklus. Roth schreibt gegen die Formen der Verdrängung von Todesmanie und historisch manifester Zerstörungswut, er spürt ihnen in der scheinbaren Idylle eines vergessenen Landstrichs ebenso nach wie in der alten Metropole Wien und verbindet beide durch seine Perspektive einer fortdauernden Fremdheit. Wie der Bericht Karl Bergers sich kaum vom Duktus der Rothschen Reportagen unterscheidet und diese die unauffällige Sprache der Romane eher fortsetzen als brechen, so werden Stadt und Land, das Erschießen von Tieren und das Erschießen von Menschen als zusammengehörig gezeigt. Indem sie die Relikte der Geschichte als Ingredienzen eines aktuellen Bewußtseins zeigen, sind die Essays und der Lebensbericht Kulturkritik im besten Sinne.
Gerhard Roth: Eine Reise in das Innere von Wien. Essays . 287Seiten, 39,80DM.
Die Geschichte der Dunkelheit. Ein Bericht. 157Seiten, 36DM. Beides: S. Fischer, Frankfurt am Main, 1991.
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