IM „Peter“ — „Staatsfeind“ Templin

Der DDR-Bürgerrechtler Wolfgang Templin war als Student IM der Stasi/ Nach seiner Selbstenttarnung entließ ihn das MfS aus seiner „Täterrolle“/ Es begann der „OV Verräter“  ■ Aus Berlin Matthias Geis

„Ich verpflichte mich hiermit freiwillig zu einer Zusammenarbeit mit den Organen des MfS. Ich bin darüber belehrt worden, daß ich mit keiner dritten Person, auch nicht mit meinen nächsten Angehörigen, über diese Zusammenarbeit sprechen werde. Zum Zwecke der Abdeckung dieser Zusammenarbeit und zum Unterscheiden der von mir angefertigten Berichte, wähle ich mir den Decknamen ,Peter‘.“

IM „Peter“ ist nicht irgendeiner aus dem großen Heer der Stasi-Zuträger. Der sich da am 12.Januar 1973 in Ostberlin mit den drei Standardsätzen zur konspirativen Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst verpflichtet, ist Wolfgang Templin, eine der zentralen Figuren der DDR-Opposition in den achtziger Jahren. An die vierzig dicke Aktenbände hat das MfS von 1975 bis 1989 über ihn angelegt, zigtausend Seiten mit Maßnahmeplänen, Abhörprotokollen, Spitzelberichten, in denen das Leben von Wolfgang Templin und die Versuche der Staatssicherheit, es zu zerstören, minutiös festgehalten sind.

Und dann ist da noch der schmale, 180Seiten umfassende Band, über dessen Existenz ihn die Gauck-Behörde vor wenigen Wochen informierte — die IM-Akte „Peter“. Von ihr darf Wolfgang Templin — der seit Anfang der Woche im Lesezimmer der Behörde die letzten zwanzig Jahre seiner Biographie aufzuarbeiten beginnt — nur den Teil einsehen, den seine damaligen Stasi-Kontaktleute über ihn angelegt haben — Auftragskonzeptionen, Einschätzungen über „Peter“, Perspektivplanungen für dessen zukünftige Verwendung. Der andere Teil, Berichte, die Wolfgang Templin vier Jahre lang zwischen 1971 und 1975 für die Staatssicherheit verfaßt hat, bleiben ihm verschlossen. Wenn er in seiner IM- Akte blättert, verdecken weiße, mit Büroklammern oben und unten fixierte Seiten, was er dem MfS zugetragen hat. Zwei freundliche Damen wachen darüber, daß er sich ans Reglement hält.

Wolfgang Templin ist der erste inoffizielle Mitarbeiter, der sich im Lesezimmer der Gauck-Behörde mit seiner Täterakte konfrontieren darf. Das Privileg verdankt er seinem Status als prominentem Opfer des Unterdrückungsapparates, dem er sich als 23jähriger Student verpflichtete und zu dessen Beseitigung er 18 Jahre später aktiv beitrug.

Als Wolfgang Templin Anfang 1973 seine Verpflichtungserklärung unterschreibt, arbeitet er bereits seit eineinhalb Jahren mit der Staatssicherheit zusammen. Er ist überzeugter Kommunist und Mitglied der SED seit 1970. Er trifft sich mit seinen Kontaktleuten in konspirativen Wohnungen oder Gaststätten und liefert Berichte über die Stimmungslage an der Humboldt-Universität. So interessiert sich die Staatssicherheit beispielsweise für die Reaktionen der Studenten auf den Brandt- Rücktritt oder die Ausbürgerung Solschenizyns. Zudem finden sich in der Akte auch Einschätzungen zu einzelnen Kommilitonen: „...leistet immer gerade soviel, um nicht negativ aufzufallen“; „...abstrakte, schon am Kommunismus orientierte Humanismus-Auffassung, mit der er dann über die Wirklichkeit stolpert“.

Mit solchen Einschätzungen macht sich Templin zum Rädchen im Stasi-Getriebe. Die Akte enthält cirka zwanzig in diesem Stil gehaltene Personenberichte. Eine Beurteilung aus dem Jahre 1972 zeigt, daß Templin im Sinne der Stasi funktioniert: Er „ist sofort bereit, den ihm erteilten Auftrag durchzuführen“, heißt es etwa lapidar. Daß Templin den Wünschen seiner MfS-Vormänner nur widerwillig nachgekommen sei, dafür haben sich bislang in der Akte keine Hinweise gefunden. Vielmehr entsteht der Eindruck eines zwar nicht sonderlich eifrigen, aber gewissenhaften, kleinen Zuträgers. Einmal, als IM „Peter“ einen Auftrag nicht wie gewöhnlich zum vereinbarten Termin vorlegt, referiert die Stasi über ihren jungen Mitarbeiter: „Er führte aus, daß er in der nächsten Zeit die Kaderakten aller Genossen in die Hand bekommt, welche er für die Ausarbeitung der gewünschten Unterlagen verwenden will.“

Daß die Stasi direkt an jede gewünschte Kaderakte problemlos herankommen konnte, daran besteht, nach allem, was über den DDR-Geheimdienst bekannt geworden ist, kein Zweifel; auch finden sich in Templins Berichten über Kommilitonen keine Passagen, deren gefährliche Brisanz für die Bespitzelten auf den ersten Blick ins Auge springt. Die Widerwärtigkeit der Berichte hält sich — verglichen mit sogenannten „Zersetzungsprotokollen“ — in Grenzen.

In der Tat waren die Dienste des Philosophie-Studenten nur der Vorlauf für höhere Aufgaben. Wolfgang Templin, so erfährt er jetzt aus seiner Akte, war für den operativen Einsatz im westlichen Ausland vorgesehen. Daraus wurde bekanntlich nichts.

Spätestens seit Mitte 1973 verdüstern sich, aus der Sicht der MfSler, die Perspektiven für den IM „Peter“. Hieß es anfangs kritisch-hoffnungsvoll, Templin habe „noch nicht immer die richtige Haltung zu vielen ideologischen Fragen“, so mußte die Stasi in der Folgezeit zusehen, wie Templins ideologische Wirrungen zunahmen und Ende 1974 in die Gründung einer konspirativen, trotzkistischen Studentengruppe mündeten. Templin hielt seine Umtriebe vor der Stasi geheim, die selbstredend längst aus anderer Quelle informiert war. Mielkes Mitarbeiter traten den Rückzug an: Am 30.Mai 1975 ist, laut Aktenvermerk, „die Perspektive für den ursprünglich geplanten operativen Einsatz nicht mehr gegeben“. Am 4.November „wurde ihm eröffnet, daß wir die Zusammenarbeit einstellen“. Zehn Tage zuvor hatte sich Wolfgang Templin vor seinen trotzkistischen Mitstreitern — darunter auch der heutige Chefredakteur der Wochenzeitung die Andere, Klaus Wolfram, — entarnt. Einer der sechs aus Templins revolutionärem Zirkel war IM „Andre“. Er erstattete umgehend Bericht: „Zu seinen Motiven für die Zusammenarbeit mit dem MfS erklärte Templin, daß es ihm darum ginge, nicht Erkenntnisse zu liefern, sondern Erkenntnisse zu verhindern.“ In einem Auskunftsbericht der HauptabteilungXX/3, der sich in der Opferakte Templins findet, wird der Vorfall 1979 noch einmal resümiert: Er habe „alle Fragen der inoffiziellen Tätigkeit des MfS, soweit sie ihm bekannt geworden sind, vorbehaltlos preisgegeben“.

Den Grund für seine unehrenhafte Entlassung aus dem Dienst verschwieg die Staatssicherheit gegenüber Templin, um die Quelle aus dem Trotzki-Zirkel zu schützen. IM „Andre“ ist vortan der erste aus der langen Reihe, die auf den abtrünnig gewordenen Spitzel „Peter“ angesetzt werden, um die bald „staatsfeindlichen Umtriebe“ des Bürgerrechtlers Templin zu überwachen.

„OV Verräter“ heißt der operative Vorgang, mit dem Templin bis 1989 verfolgt wurde. Der Dienst, so zeigt schon der Name, unter dem die gegen Templin eingeleiteten Maßnahmen zusammengefaßt wurden, war nachtragend. Daraus erklärt sich die in der Opposition unbestrittene Einschätzung, daß Templin zu den bestgehaßten, von der Stasi am unnachgiebigsten Verfolgten aus der 80er-Jahre-Opposition zählt. 1983 verliert er seinen Arbeitsplatz an der Akademie der Wissenschaften, danach verdingt er sich als Putzhilfe, Waldarbeiter und Heizer.

Als er 1985 Sprecher der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ wird, reißt die Kette der Zuführungen nicht mehr ab, ersetzt ein Maßnahmeplan den anderen. Jetzt geht es, so ein Papier der HauptabteilungXX/2 vom Januar 1986, um „höchste operative Effektivität“. Zielstellung: nervliche Zerrüttung. Beispiel: Die Stasi annonciert im Namen Templins DDR-Mangelware zu traumhaften Konditionen. Fortan geben sich im Hause Templin die wütend-enttäuschten Kaufinteressenten die Klinke in die Hand. Oder: Stasi läßt liefern: Tiere, Elektronik, Zierpflanzen, Autos. Die Bestellkarten der Lieferanten tragen seine Unterschrift...

Nach einem flüchtigen Blick in die Akten, die von Wolfgang Templins Horrortrip zeugen, verläßt einen der Mut, auf die Verstrickungen von „Peter“ zurückzukommen. In der Unverhältnismäßigkeit von Täter- und Opferrolle, die allein schon im quantitativen Mißverhältnis von Täter- und Opferakte sinnfällig wird, verschwindet die frühe Verstrickung. So wird es auch Wolfgang Templin empfunden haben, als er nach dem Umbruch nicht den Mut fand, offenzulegen, wo die Entwicklung des Bürgerrechtlers Templin begann. Die zweite Chance, jetzt, nach der von ihm miterkämpften Aktenöffnung, wird unvergleichlich bitterer für ihn werden. Mit der Hilfe seiner Freunde aus der DDR-Opposition sollte er sie nutzen.