: »Noch so ein Orchideenarzt«
■ Pionierarbeit in Steglitz: Seit Mai 1990 betreiben zwei Berliner Amtsärzte nebenberuflich die erste umweltmedizinische Ambulanz in Berlin/ Von Bundesgesundheitsamt und Senat wird die Abulanz bisher »stiefmütterlich« behandelt
Steglitz. Nein, einen bestimmten Fall will er auf gar keinen Fall nennen. Zu gut erinnert sich Andreas Beyer noch an die Reaktionen auf einen Beitrag des ARD-Gesundheitsmagazins Praxis. Andreas Beyer, Amtsarzt in Berlin Steglitz und Mitbetreiber der ersten umweltmedizinischen Ambulanz in Berlin, hatte dort über einen Einzelfall berichtet: Einen Patienten, dessen Beschwerden durch seine mit einem Lösungsmittel behandelte Holzwand verursacht worden waren. In den folgenden Tagen klingelte Beyers Telefon im Steglitzer Gesundheitsamt heiß. Die Anrufer befürchteten, auch ihre Kopfschmerzen könnten nur von diesem Lösungsmittel herrühren. Umweltgifte sind bei aller Relevanz auch ein Modethema. Beyer gründete die umweltmedizinische Ambulanz zusammen mit seiner Schöneberger Kollegin Helga Heidbüchel-Braatz vor knapp zwei Jahren. Zwar gibt es schon zwei solcher Ambulanzen in der Bundesrepublik, die jeweils an die Unikliniken in Düsseldorf und Aachen angegliedert sind. Dennoch hat die Berliner Einrichtung Pilotcharakter: Bei Bedarf gehen die Ärzte, von einem Umweltingenieur des Gesundheitsamtes begleitet, auch in die Wohnungen ihrer Patienten, um dort nach verdächtigen Schadstoffen zu suchen.
»Zu uns kommen Menschen, die nicht in die klassischen Bilder der Schulmedizin passen«, erklärt Beyer. Waren zuerst 70 Prozent der Anrufer Selbstmelder, wird inzwischen die überwiegende Zahl der Patienten von einem Arzt überwiesen. Die meisten haben diffuse Beschwerden, wie Kopfschmerzen oder chronischen Husten. Da ist mancher Arzt trotz gründlicher Untersuchung einfach mit seinem Latein am Ende, aber manchmal, argwöhnt Beyer, werden auch nur quengelige Patienten an die Umweltmediziner abgeschoben. Eine gründliche internistische Untersuchung gehört daher zu seinem Plichtprogramm. Doch zuvor muß der Patient einen 24 Seiten langen Fragebogen über den Arbeitsplatz, Wohnverhältnisse, Zahnfüllung, Haustiere und verwendete Kosmetik ausfüllen. Die Suche nach Schadstoffen ist langwierig und voller Tücken. Kopfschmerzen können neben internistischen auch psychosomatische Ursachen haben. In einem ersten Gespräch wird daher auch nach der psychischen Befindlichkeit gefragt.
Danach erfolgt häufig eine Wohnungsbesichtigung, bei der Proben von möglichen Schadstoffquellen genommen werden. Die größte Gruppe der Schadstoffe befindet sich in Innenräumen: Lösungsmittel in Lacken, Farben und Teppichen. Formaldehyd in Schränken aus Preßspanplatten und Holzschutzmittel können 10 bis 15 Jahre lang schädliche Dämpfe absondern. Manchmal finden sich auch Schimmelpilze oder Milben, auf die besonders Kinder mit allergenem Asthma reagieren können. In diesem Fall führt Beyer ein Gespräch mit der Bauaufsicht, die den Vermieter auf seine Pflichten hinweist. Die zweitgrößte Gruppe der Patienten leidet unter Allergien. Die Ambulanz macht selbst keine Allergietests, hilft aber mit Beratung weiter. Außenluftprobleme sind selten und werden in der Regel von Betrieben in der Nachbarschaft verursacht. Mitte der achtziger Jahre haben chemische Reinigungen häufig Perchloräthylen verwendet. Die Dämpfe des Lösungsmittels dringen spielend durch die Wände des Nachbarhauses und können den Bewohnern das Leben sauer machen, lange nachdem der Betrieb verschwunden ist. Die Proben werden analysiert, und wenn die Ergebnisse vorliegen, beginnt der schwierigste Teil der Arbeit. »Man muß die Befunde wichten und einen Zusammenhang zwischen der festgestellten Belastung und dem gesundheitlichen Problem des Patienten finden.« Umweltfaktoren sind häufig nur ein Nebenfaktor von Erkrankungen. »Da kann eine genetische Belastung und eine psychische Streßsituation zu Erkrankungen führen, die durch einen Umweltfaktor verstärkt werden«, führt Beyer aus. Die Beseitigung des schädlichen Umweltfaktors kann zu einer Verbesserung führen. Oder auch nicht. Eindeutige Heilungserfolge wie bei einer Blinddarmentzündung — Blinddarm raus, Patient gesund — sind rar. Andererseits leisten die beiden Berliner Ärzte Pionierarbeit. Eine wissenschaftliche Begleitung des Projektes wäre dringend erforderlich. Ein entsprechender Antrag beim Bundesgesundheitsamt ist noch nicht beantwortet worden.
Mit Skepsis betrachtet denn auch Dieter Eis, Beauftragter für Umweltmedizin der Bundesärztekammer, das steigende Interesse niedergelassener Ärzte an der Umweltmedizin. »Etikettenschwindel« befürchtet er, da die Analysen sehr kostenintensiv und damit lukrativ sind: »Es wäre furchtbar, wenn das zu einem Abrechnungsartikel verkommt.« Um Wildwuchs zu vermeiden, erarbeitet Eis zur Zeit einen Vorschlag für eine zweijährige Zusatzausbildung, die einem Arzt das Recht geben soll, sich Facharzt für Umweltmedizin zu nennen. »Noch so ein Orchideenarzt«, spöttelt Beyer, der jedoch eine Zusatzausbildung ebenfalls bejaht.
Beyer und Heidbüchel-Braatz haben bisher etwa 135 Patienten untersucht und zirka 400 beraten. Nicht gerade ein Rekord. Soviel schafft ein normaler Arzt locker in zwei Wochen. Die auf den ersten Blick etwas magere Bilanz hat handfeste Gründe. Beide Ärzte betreiben die Ambulanz neben ihrer hauptberuflichen Tätigkeit als Amtsärzte. Anträge auf ABM-Stellen und ein EDV-System, daß es ihnen ermöglicht, Daten mit den Instituten für Umweltmedizin in Düsseldorf und Aachen abzugleichen, liegen seit einem Jahr unbeantwortet beim Senat. Egon Kohring, Abteilungsleiter beim Senat für Gesundheit, fühlt sich davon nicht angesprochen: »Wir unterstützen die Umweltambulanz in jeder Weise.« Kohring hält sogar eine zweite Umweltambulanz in Ost-Berlin für wünschenswert. Warum dann der Antrag nicht längst bewilligt wurde, läßt Kohring allerdings unbeantwortet. Anja Seeliger
Umweltmedizinische Ambulanz des Gesundheitsamtes Steglitz, Schloßstraße 80, 1000 Berlin 41. Tel.: 79043620.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen