: Liturgie der Gewalt
Wladimir Sorokins Romans „Marinas dreißigste Liebe“ ■ Von Annette Brockhoff
Marina, Klavierlehrerin im Kulturhaus einer Moskauer Fabrik und attraktive Heldin von Wladimir Sorokins Romans Marinas dreißigste Liebe, führt ein Leben, das einem westlichen Leser nicht unbedingt ungewöhnlich erscheinen muß. Erst mit dem Wissen um sowjetische Moralvorstellungen wird er zur Mißbildung am Volkskörper, zum „Absolut Bösen“. Marina ist Lesbe mit gelegentlichen Nebenverdiensten im heterosexuellen Geschäft, drogenabhängig, klaut mit Befriedigung Butter und verkehrt in Dissidentenkreisen. Gleich zu Anfang befinden wir uns in der Imitation eines Empire-Boudoirs des „alternden Adelssprößlings“ und Pianisten Valentin, der sie im kirschroten Samtmorgenrock empfängt. „Er hatte weiche sinnliche Lippen, die zusammen mit den außergewöhnlich geschickten Händen und dem phänomenalen Penis eine tödliche Trias bildeten.“ Ohne viel Federlesen, aber im lockeren Small talk, geht es entsprechend zur Sache. Marina besorgt es ihm mit einer Fellatio, deren „schmackhafte“ Einzelheiten uns der Autor nicht vorenthält. Bei Kaviar und Sekt erfahren wir nebenbei, daß Marina zwar fähig ist, die „bordeauxrote Eichel“ eines Bohèmiens in vielfältige Erschütterung zu versetzen, ihr eigenes Sexualleben mit Männern jedoch ohne „Höhepunkte“ bleibt: Wie wir annehmen müssen, eine Spätfolge der Vergewaltigung durch den Vater, später durch den Leiter des Pionierlagers.
Marinas aufreibende Karriere als Lesbe beginnt mit sechzehn. Vierzehn Jahre später stehen 28, respektive 29 Frauen auf ihrem Konto, sauber konserviert und katalogisiert: „Es war eine lakonische Chronik der Liebe — achtundzwanzig eingeklebte Fotorafien — auf jeder Seite eine. Achtundzwanzig Frauengesichter.“
Das Liebesalbum gehört zu den obersten Verschlußsachen in ihrer häuslichen Sakristei, eine Art Musterwohnung heimlichen Dissidententums: Das ukrainisch-rustikale Interieur mit Großmutters Erbstücken und estnischen Nippes beherbergt neben christlichem Zubehör — Bibel, Großmutters Rosenkranz, Taschenpsalter und Gebetbuch — die literarischen Fetische der Abweichung, Nabokows Lolita, Orwells 1984, Pasternak, Achmatowa, Brodskij und den Archipel Gulag. Über allem thront Er — Zentralikone ihres Haushalts —, den wir für den Autor der drei wuchtigen Bände halten dürfen. Ihm allein traut sie zu, ihr mit dem Orgasmus etwas zu verschaffen, was sie über dieses „physiologische Minimum“ hinaus entbehrt. Doch der bärtige Märchenprinz, dessen Bekanntschaft sie als klischeehaftes Ritual geheimer Zusammenkünfte, anvertrauter Manuskripte und von der Ausweisungsdrohung simulierter Erotik halluziniert, bleibt vorerst Fiktion.
Statt dessen initiiert die Betrachtung der Liebesakte, die sie mit dem Konterfei Nummer29 auf den neuesten Stand bringen will, eine „Nummernrevue“ der Erinnerung, eine erotomane Registerarie. Der pornographische Bilderreigen wiederum bildet das aufreizende Präludium für das sexuelle Nachspiel mit dem „Original“, das „auf der Höhe der Gegenwart“ zum Dienst an der Liebe erscheint. Nach dem elften Orgasmus jedoch beginnt die Krise, die dramaturgisch auch den Scheitelpunkt des Romans bildet. Unter dem Einfluß eines Papyrosa-Joints verschwimmt die Lesbos-Idylle zum quälenden Alptraum, in dem Er Marina als leibhaftiger Versucher erscheint. Mit Fellmantel, Lederriemen und Elchenstab liest er ihr die Leviten, und seine mächtige Hand enthüllt das wahre Liebesobjekt: „Das himmlische Rußland.“
Die Erlösung naht, wenn auch ohne sichtbaren Heiligenschein: Marinas dreißigste Liebe wird ein „Bild“ von einem Mann, die Kopie seines imaginären Vorgängers und eine wahre Verkörperung Rußlands: der Parteisekretär Sergej Nikolajewitsch. Er erscheint ihr wirklich im Traum und zeigt ihr das gelobte Land: „Plötzlich schwoll auf der grenzenlosen Wasseroberfläche des Meeres ein weißer überschäumender Hügel an, er zerbarst in einer malerischen Explosion, die nach oben aufstrebte und bis in alle Einzelheiten zur Form des Spasski-Turmes versteinerte.“ Marina hört die Glocken läuten, und vom unbekannten Ufer in ihrem Rücken erklingt die Nationalhymne: „Von Rußland, dem großen auf ewig verbündet,/ steht stark der Sowjetrepubliken Bastion./ Es lebe vom Willen der Völker gegründet,/ die einig' und mächtige Sowjetunion!“
Zurück ins Glied: Marinas sexuelle Offenbarung, die Erlösung vom homosexuellen Surrogat, fällt in eins mit ihrer Wiedergeburt als „homo sovieticus“: Während des noch schwelenden Orgasmus macht sie den erlösenden Schritt nach hinten „und hat sich auf die einzig freie Stelle in der wohlgeordneten Kolonne des Chors der Millionen gestellt, hat ihren Platz eingenommen, der so viele Jahre verwaist war“.
„Leo Tolstoi wäre mit einem solchen Schluß hoch zufrieden gewesen“, schreibt Sorokin in einem unlängst in der taz veröffentlichten Text, und er spielt damit auf den kollektivistischen Charakter sowjetischer Ideologie an, der eine wie auch immer geartete „ontologische Trennung vom kommunalen Körper“ diskursübergreifend als widernatürlich erkennt und stigmatisiert. Es geht Sorokin also nicht, wie es die Westschablone nahelegt und Sibylle Cramer in der 'Frankfurter Rundschau‘ betont, um die „Demontage ideologischer Besitztümer des Marxismus“, seine „Methoden der Triebregulierung, -neutralisierung und -instrumentalisierung“ und den „Kommunismus als perversen Glücksgott“, sondern um einen umfassenden ideologischen Horizont, dem nicht zu entrinnen ist.
Hatte Sorokin mit seinem Roman Die Schlange dem Stimmengewirr wartender Menschenschlangen eine polyphone Partitur verliehen (und nur in zweiter Linie ein Soziogramm der Mangelwirtschaft verfaßt), so handelt es sich bei Marinas dreißigste Liebe um eine Ikonographie ideologischer Diskurse, deren innerer Verwandtschaft der Autor auf der Spur ist. Mit seinen Korrespondenzen und Symmetrien bildet der Roman eine Art kollektiven Echoraum scheinbar konträrer sinnstiftender Systeme: des Dissidenten- und Westlertums, der Slavophilie, des Kommunismus: „Lebensweisen, deren jede als die Nachtseite des anderen auftritt, als dessen anderes, dessen Unbewußtes, dessen utopischer wie negativer Phantasmen“, wie es der 1981 emigrierte russische Literaturwissenschaftler Boris Groys in seinem aufschlußreichen Buch Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion formuliert.
Sorokins Roman ist ein kunstvolles Kabinett solcher Spiegelungen und Analogien. Im Doppelgängertum des kommunistischen Parteifunktionärs und des slavophilen Dissidenten-Abgotts (Solschenyzin) werden die heilsgeschichtlichen Parallelen, wird die Familienähnlichkeit der feindlichen Ideologien signifikant, im sexuell-religiösen Ritual die gemeinsame Semantik offenbar, Marinas prekäres Liebesleben, das sich oberflächlich wie ein gehobener Soft-Porno liest, gehorcht einer magischen Liturgie der Gewalt: Es sind allesamt demiurgische Penetrationen, vom wachsamen Auge Lenins auf Marinas sexuelle Ersterfahrungen im Kindergarten, vom stechenden Blick des zottelbärtigen Erlösers bis zur „heilsamen“ Vergewaltigung durch den „positiven Helden“ der Sowjetunion. Hier wird in jeder Hinsicht der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben, werden Patriarchat, Personenkult und Revolution in der Libido gleichgeschaltet.
Marinas phallische Rekollektivierung, die auf geradem Wege in die „Traumfabrik“ kommunistischen Arbeitsethos' führt, wird begleitet von einem Bildersturm, dem neben Bibel, Liebesalbum und Dissidentenliteratur auch Er zum Opfer fällt: „Niemand blickte mehr von der Wand. Geblieben war nur ein blasses, unauffälliges Quadrat.“ Im Aufspüren von Zeichen und Symptomen phantasievoll geworden, denkt man automatisch an die suprematistischen Formen der russischen Avantgarde (wie etwa Malewitschs Schwarzes Quadrat), deren „Unschuld“ von den Künstlern der inoffiziellen sowjetischen Kultur der siebziger und achtziger Jahre ebenso in Zwiefel gezogen wird wie jede andere utopische Ästhetik. Boris Groys diagnostiziert im avantgardistischen „Willen zur Macht“ eine Keimzelle zum „Gesamtkunstwerk Stalin“: „Die Stalinzeit realisierte tatsächlich den Traum der Avantgarde, das gesamte gesellschaftliche Leben nach einem künstlerischen Gesamtplan zu organisieren, wenn auch selbstverständlich nicht so, wie das der Avantgarde vorgeschwebt hatte.“ Neu-Inkarnationen des Willens zur Macht sind aber auch die Traditionalisten wie Achmatowa oder der Autors des Gulag, „wenn sie den wahren Geist der Vergangenheit zu besitzen glaubten, so wie die Avantgarde sich im Besitz des wahren Geistes der Zukunft sah“.
Konsequent und analog zu postmodernen Auffassungen im Westen verstehen sich die Künstler der sogenannten SozArt, zu denen auch Sorokin gehört, nicht als neue Avantgarde, als Verfechter einer neuen Utopie, sonden sehen einzig im Rückzug der Kreativität, der Abschaffung einer besonderen künstlerischen Vision, eine Strategie zur Unterwanderung herrschaftlicher Diskurse. Der Skandal ihrer künstlerischen Methoden liegt nicht in der provozierenden Verfremdung, in satirischer Zuspitzung oder Parodie, sondern im imitierenden Zugriff auf Welbilder und Genres, einem tautologischen Nachsprechen und -schreiben von Jargons und Stilen. Sorokin ist ein Meister „mentaler Pop-Art“, ein postutopischer Mythograph. Seine Vorbilder sind weniger Joyce und Kafka als Duchamps und Warhol. Wichtige Anregungen erhielt er auch von den Moskauer Konzeptualisten, wie etwa Erik Bulatow, dessen Gemälde Roter Horizont — auf dem Buchumschlag zu sehen — als bildästhetisches Pendant zum synthetischen Hyperrealismus des Romans betrachtet werden kann. Sorokin enttarnt den sowjetischen Lebensraum als Verbundsystem ideologischer Chiffren, die sich immer wieder in andere Texte umcodieren lassen. Zum bevorzugten Ort solcher Umprägungen werden die Traumsequenzen, in denen sich die Archetypen aus dem Archiv des kollektiven Unbewußten nach Herzenslust neu formieren lassen. Foucaults Ordnung der Dinge steht hier Pate, seine Archäologie gleichsam hinter dem Rücken der Individuen sich durchsetzender Diskurssysteme. Marinas Rettung erweist sich als kollektive Enteignung individueller Merkmale, ihre Spur verliert sich im übermächtigen Kontext des kommunistischen Systems, in den künstlichen, flächendeckenden Wortnetzen einer staatlich verfügten Plansprache, die schließlich selbst zum handelnden Subjekt des Romans wird: Der Selbstrechtfertigungsversuch eines von Marina wegen mangelnder Produktionsdisziplin angeschwärzten Genossen verselbständigt sich in einen monströsen Kanon stimmloser Parteiverlautbarungen, einen universellen Code der Leere, in dem die geschichtliche Welt endgültig jeglicher Anschauung entzogen ist.
Wladimir Sorokin: Marinas dreißigste Liebe. Aus dem Russischen von Thomas Wiedling, Haffmans Verlag, Zürich 1991, 400Seiten, 44DM.
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