■ SOZIALHILFE STATT ROBBENJAGD: Ein kritischer Reisebericht des Ethnologen Karl-Heinz Raach aus der Arktis mit faszinierenden Bildern
Ein kritischer Reisebericht des
Ethnologen Karl-Heinz Raach aus der Arktis mit faszinierenden Bildern
VONKLAUS-PETERKLINGELSCHMITT
Es gibt Regionen auf dieser Erde, die mit faszinierenden Landschaften und Menschen aufwarten können — in die zu reisen aber nur lederhäutige Globetrotter der knallharten Sorte wagen: „das Thermometer sinkt auf -40 Grad, Windböen fühlen sich an wie -80 Grad“. Karl-Heinz Raach (32) ist für uns Warmblütler durch Arctic Quebec und den Auyuittuq National Park (Land, das niemals schmilzt) im hohen Norden Kanadas gereist. Und der für seine prachtvollen Fotobände bekannte KaJo-Verlag in Hannover hat seine Bilder aus der Arktis Ende des vergangenen Jahres veröffentlicht — rechtzeitig zur mitteleuropäischen Wintersaison mit Temperaturen wie im arktischen Sommer.
In Grise Fjord auf Ellsmere Island, der nördlichsten Eskimosiedlung Kanadas, ist der Winter dagegen bitterkalt und dunkel: Von Anfang November bis Ende Februar erhellen „nur die im Schnee reflektierenden Sterne und das diffuse Licht der Straßenlaternen das Dorf am äußersten Rande der bewohnbaren Welt. Dafür geht dann die Sonne von Anfang Mai bis Mitte August nicht mehr unter.“
Insgesamt eineinhalb Jahre reiste Karl-Heinz Raach durch die kanadische Arktis. Und sein Hauptinteresse galt den dort lebenden Menschen, den Inuit, wie sich die Nordpolarbewohner selbst nennen. Das Wort „Eskimo“ ist nämlich ein Schimpfwort der Indianer für ihre Brüder und Schwestern im Norden. „Esquimantsic“ nannten die Rothäute die Inuit — und das heißt „Rohfleischfresser“. Knapp 90.000 Inuit bewohnen einen Lebensraum von etwa 13 Millionen Quadratkilometern. Davon leben 40.000 auf Grönland, 25.000 in Kanada, 25.000 in Alaska und schätzungsweise 1.300 in Sibirien. In seinem Bildband hat Raach das Leben der Inuit ohne verklärenden Filter dargestellt, denn die Zeiten des Film-Eskimos Nanuk (1920/21), der mit dem Hundeschlitten einsam seine Bahn am Polarkreis zog, sind lange vorbei: Aus dem Jägervolk des Nordens ist ein „Volk von Sozialhilfeempfängern“ geworden.
Die Zerstörung des subarktischen Nadelwaldes und die Ausbeutung der Bodenschätze verursachten eine ökologische Katastrophe — und eine soziale. Raach: „Für die Einheimischen wird die Jagd immer schwieriger, dadurch nimmt die Abhängigkeit von der Sozialfürsorge zu, sie wiederum verursacht Unzufriedenheit und Depressionen und führt schließlich zu Alkoholismus, Drogenkonsum und Gewalttätigkeiten.“
Verlust der Einnahmequelle
„Ich mache mir Sorgen um die jungen Leute. Sie haben verlernt, in der Kälte zu überleben, und im Dorf finden sie keine Arbeit“, sagt Markoise Audlakiak von Broughton Island auf Baffin Island, der Inuit, der seit vierzehn Jahren für die kanadische Regierung tätig ist. Der „Vorzeige- Eskimo“ (Raach) hat es zu bescheidenem Wohlstand gebracht: Die Familie Audlakiak bewohnt ein zweistöckiges Haus und besitzt das schnellste Boot im Dorf. Doch Markoise Audlakiak konnte sein Boot im Sommer 1989 nur einmal benutzen, denn für Haus und Boot muß er rund um die Uhr arbeiten — und den alten Freunden, die längst von der Sozialhilfe leben, fehlt das Geld zur Vorfinanzierung der tagelangen Jagdausflüge. Dabei war die Robbenjagd noch vor wenigen Jahren für die meisten Familien im Dorf an der Baffin- Bay die wichtigste Erwerbsquelle. Das erbeutete eiweiß- und proteinhaltige Fleisch lieferte wertvolle Nahrung, und die Felle finanzierten die Ausrüstung und die laufenden Ausgaben. Die Inuit, so Raach, jagten ausschließlich erwachsene Tiere — und deshalb traf sie die von Greenpeace und diversen Tierschutzorganisationen initiierte Kampagne gegen die Massenabschlachtung der Robbenbabys völlig unvorbereitet: „Noch Ende der siebziger Jahre erwirtschafteten die kanadischen Inuit neunzig Prozent ihrer Einkünfte durch den Verkauf von Robbenfellen. Heute ersetzt die Sozialhilfe den Verlust der Einnahmequelle.“
Trotz der schleichenden Verelendung der Inuit in Kanada, die von Raach auch fotografisch dokumentiert wird, sind die Bilder aus der Arktis mehrheitlich eine Liebeserklärung an die einzigartige Eislandschaft und an die Menschen, die in ihr leben: Dem Foto von zwei Husky- Welpen zwischen aufgespannten Robbenfellen wird von Raach ein Foto von Großvater Kiguktak zugeordnet, der für seine beiden Enkel einen Holzschlitten gebaut hat. Und die Bilder vom Eishockey der „Kids“ vor dem Hintergrund der kaum wahrnehmbaren Polarsonne lassen sich wohl nirgendwo sonst auf der Welt „schießen“. Natürlich fehlen in Raachs Buch die stahlblau-grellweißen Fotos von abbröckelnden Eisbergen (West-Grönland) und den Horizont absperrenden Eisbarrieren (Disko-Bucht) nicht.
Kampf ums Territorium
Es fehlt auch nicht der Hoffnungsschimmer, der sich durch die knappen, informativen Texte zieht: Die Inuit sind — wie die Indianer Nordamerikas — dabei, sich zu organisieren und ihre Rechte einzuklagen. So setzt sich etwa der Dachverband der Inuit-Organisation von Labrador seit Jahren für die Schaffung eines Inuit- Territoriums ein. Zwei Millionen Quadratmeter Land und noch einmal zweieinhalb Millionen Quadratmeter Küstengewässer wollen sie als Reservat haben. Sie berufen sich auf die kanadische Verfassung. In Arctic Quebec und in der Westarktis haben die Inuit im Kampf um ihr Territorium bereits Erfolge erzielen können. Ende 1991 wurden den Ureinwohnern in diesen Gebieten 350.000 Quadratkilometer Land überschrieben, inklusive der dort lagernden Bodenschätze.
Wer am warmen Ofen in eine der kältesten Zone der Erde „reisen“ und das Leben der Inuit heute kennenlernen möchte, der kommt an Raachs 150 Seiten starkem Buch nicht vorbei. Bilder aus der Arktis sei auch all denen wärmstens zur Lektüre empfohlen, die bei allem Rummel um den Tierschutz verdrängt haben, daß zwischen Eisbären, Kalibus und Robben noch ein paar zigtausend Menschen leben, die überleben wollen. Schließlich ist die Hälfte aller Inuits jünger als 20 Jahre.
Karl-Heinz Raach: Bilder aus der Arktis ; KaJo-Verlag, Hannover 91
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