Tschernobyl: Das ganze Ausmaß offen zugeben

Hamburg (dpa) — Für Aufruhr sorgte jüngst der ukrainische Kernphysiker Wladimir M. Tschernosenko mit seiner Aussage, an den Folgen des Super- GAU in Tschernobyl würden eine Million Menschen sterben. Von den Helfern bei Aufräumarbeiten, den „Liquidatoren“, seien schon rund 7.000 tot. Jetzt bekommt Tschernosenko auch Unterstützung von dem deutschen Experten Prof.Edmund Lengfelder.

Der Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz, Prof.Edmund Lengfelder, hält die Schätzungen des Physikers für „überhaupt nicht übertrieben“. Lengfelder berichtete auf einer Veranstaltung der deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung „Ärzte gegen Atomkrieg“ in Isny (Allgäu), in den besonders betroffenen Regionen steige die Rate der Schilddrüsenkrebse „hochsignifikant“ an. So sind nach seinen Angaben seit 1986 in Weißrußland über 100 Schilddrüsenkarzinome bei Kindern aufgetreten. Allein im vergangenen Jahr seien 54 Fälle entdeckt worden, in diesem Jahr rechne er mit weiteren hundert Neuererkrankungen. Zum Vergleich: In den vergangenen zehn Jahren vor der Reaktorkatastrophe sind ihm zufolge in Weißrußland insgesamt nur sieben Schilddrüsenkrebse bei Kindern aufgetreten.

Einen „signifikanten Anstieg der Schilddrüsentumore“ sieht der Münchner Strahlenbiologe, der bereits mehrmals in den betroffenen Regionen war, auch bei Erwachsenen. Mit dem Höhepunkt der Erkrankungswelle bei ihnen rechnet Lengfelder allerdings erst im Jahre 2005, da es bei Erwachsenen länger dauert. Mit einer längeren Inkubationszeit müsse man auch bei den meisten anderen Krebsarten, wie etwa den Knochentumoren rechnen. Die eigentliche Krebswelle, so Lengfelder, stehe also noch bevor. Für viele Strahlenopfer, wie etwa die Schilddrüsenkranken, bestünden jedoch bei entsprechender medizinischer Betreuung gute Heilungschancen, meinte der Experte.

Große Bedeutung habe ein Projekt des Otto Hug Strahleninstituts in München, das derzeit ein großes Schilddrüsenzentrum im weißrussischen Gomel errichte, in dem 10.000 Kinder und Jugendliche pro Jahr betreut werden können. Mit nur 100 Mark, so Lengfelder, könne dort die Diagnose und die Schilddrüsentherapie für ein Kind geleistet werden. Trotz großer Anstrengungen sei die Finanzierung dieses 3,2-Millionen- Projektes jedoch noch nicht gesichert.

Die Strahlenexperten in aller Welt, so Lengfelder, sollten endlich das ganze Ausmaß der Katastrophe offen zugeben und sich nicht wie bisher von der „internationalen Atomlobby beschwichtigen lassen“. Lengfelder: „Eine ehrliche Aufklärung des gesamten Ausmaßes der Reaktorkatastrophe wäre die beste Prävention. Dies wäre um so wichtiger, da ein zweites Tschernobyl jeden Tag wieder passieren kann.“