: Rock des Neuen Langen Marsches
Chinas Jugend zwischen Westorientierung und Okkultismus ■ Von Renata Pisu
Die Klänge von Rock des neuen Langen Marsches dröhnen ohrenbetäubend. Cui Jian, der chinesische Bob Dylan, singt. Der Text des Songs lautet: „Sieh den Himmel, sieht die Erde, welch langer Weg erwartet mich... ich glaube nicht, es nicht schaffen zu können, doch ich gehe nach Westen, ich gehe nach Osten, und ich habe mich verirrt... Du alte Rote Armee, du hast das neue China aufgebaut, doch wir können jetzt nichts machen, ich überlege hin und her, doch ich weiß nicht, was ich machen soll... nichts, nichts, nichts... doch ich muß vorwärtsgehen und singen, während ich an den Vorsitzenden Mao denke...“
Cui Jian hat im Sommer 1991 seine letzte Kassette aufgenommen. Sie ist schwer zu finden, wird unterm Tisch verkauft; Rock ist nicht verboten, doch es ist gefährlich, ihn zu hören, wie es gefährlich ist, ihn zu spielen. Cui Jian bot im September 1991 an, ein Konzert zugunsten der Opfer der großen Überschwemmung zu geben, die im Juli einige Provinzen Zentralchinas verwüstet hatte. Er bekam keine Erlaubnis, obwohl er sehr viel Geld zusammengebracht hätte. Die ganze Pekinger Jugend wäre hingegangen, um ihn zu hören.
Gerade das ist es, was unerwünscht ist: daß so viele Jugendliche zusammenkommen wie vor zwei Jahren auf dem Platz des Himmlischen Friedens. „Aber das ist Quatsch, es wird kein zweites Tian An Men geben“, erklärt mir ein Musiker, der in einer kleinen Band Saxophon spielt: „Damals gab es noch die Hoffnung, etwas zu ändern, zu machen... Jetzt denken wir nach. Und sind traurig.“
„Warum seid ihr traurig?“ frage ich. Er antwortet: „Wie kann einer nicht traurig sein, der zwischen den Ruinen lebt.“ „Den Ruinen des Kommunismus?“ „Aber nein, den Ruinen unserer antiken Kultur. Der Kommunismus ist uns egal, wir sehen, was in Moskau passiert, aber so, als ob es ein Film wäre, der eine Geschichte erzählt, die uns nichts angeht.“
„Aber Tian An Men ging euch etwas an?“ „Ja und nein. Ich meine, man müßte den Hang zur Theatralik der Chinesen mit einbeziehen. Etwas geschieht, ein Vorfall, und alle fühlen sich als Hauptdarsteller, rezitieren, aber es ist Komödie.“
Eine reine Frauenband
„Und wenn die Komödie zur Tragödie wird?“ „Die Leute denken, die Tragödie trifft immer die andern. Solange es eine Komödie ist, sind alle auf der Bühne. Wenn sie zur Tragödie wird, fühlt sich niemand mehr zugehörig, um so schlimmer für die Ärmsten, die dabei draufgegangen sind.“
Ich interviewe eine junge Frau, die in einer reinen Frauenband gespielt hat, inzwischen aufgelöst, weil für Konzerte dieser Art keine Räume mehr verfügbar sind. Ich will wissen, was den jungen ChinesInnen wichtig ist, was sie bewegt, am Leben erhält.
Sie lacht und wiederholt: „Am Leben? Was heißt am Leben?“ Und fügt hinzu: „Vielleicht ist das, was uns am Leben erhält, der Versuch, die Wahrheit in uns zu finden. Wenn du wüßtest, welche Angst die Chinesen schon immer vor der Wahrheit hatten.“
„Aber wie sucht ihr diese Wahrheit?“ „Einige suchen sie in der Rockmusik. Beim Rock kannst du nicht lügen, da kommt die Wahrheit heraus. Und aus der Wahrheit kann ein Gedanke entstehen.“ „Ein neuer Gedanke?“ „Ich sage nicht neu, ich sage nur ein Gedanke. Hier in China denkt niemand, seit Jahrhunderten wird nicht gedacht.“
Ich rede mit andern jungen Leuten, ChinesInnen, die ich nicht kenne, weil sie erst zwanzig sind, geboren, als Lin Biao den Vorsitzenden Mao verriet, im fernen 1971. Sie sprechen eine andere Sprache als das Chinesisch, das ich gelernt habe, das mit Formeln aus dem kommunistischen Jargon getränkt ist und sie zum Lachen bringt. „Die Welt verändert sich zu schnell“, sage ich, indem ich den Refrain von Rock des Neuen Langen Marsches von Cui Jian wiederhole, dem Song, den zur Zeit alle Jugendlichen in Peking singen. Ich merke, wenn ich bei diesem Thema bleibe, kann ich mich mit den zwanzigjährgen ChinesInnen verständigen, wenn ich aber zum andern übergehe, frage, was sie vom Kommunismus halten oder was aus diesem oder jenem Schriftsteller geworden ist, Autoren, von denen ich denke, daß die Jugendlichen sie lieben, weil sie Vertreter der Dissidentenbewegung sind, die nach dem Massaker auf dem Tian An Men der Verfolgung ausgesetzt waren — dann machen sie gelangweilte Handbewegungen und schweigen. Ein Junge hat mir erklärt, daß sie die Schnauze voll haben von den „Dissidenten“, weil das Leute sind, die immer nur die Kommunistische Partei im Kopf haben: Wie kann man sie ändern, wie sie verbessern, wie sie demokratischer machen, womöglich wie sie stürzen. Aber das wirkliche Problem ist ein anderes. Für die Zwanzigjährigen, aber auch für viele Dreißig- bis Vierzigjährige geht es darum, die Wahrheit zu suchen, jeder auf seine Art, um dann nachdenken zu können. Ein vierzigjähriger Kunstkritiker sagt, daß der 4.Juni 1989, die Vorfälle auf dem Tian An Men, eine wirkliche Umkehr bedeutet haben: weil es vorher niemand für nötig hielt, die Wahrheit zu suchen, nachzudenken. Alle glaubten, es genüge, die wirtschaftlichen Reformen voranzubringen und demokratische Reformen einzuführen, und China wäre gerettet. Statt dessen kam der Schlag, und jetzt wird sauber in Zeiträume eingeteilt: vor der 4.Juni-Bewegung, nach der 4.Juni-Bewegung, wie die jungen Intellektuellen deutlich klarstellen, die, die auch von den „Dissidenten“ abgefallen sind. Und mir scheint, hier wird in die immer wiederkehrende Manie der Chinesen des „vor“ und „nach“ zurückgefallen: vor der 4.Mai-Bewegung (1919), nach dem 4.Mai, vor der Befreiung, nach der Befreiung, vor der Kulturrevolution, nach der Kulturrevolution...
Es ist, als ob der bedrückende Wunsch nach einer radikalen Veränderung — die sich als unmöglich erweist, weil der Zyklus immer der der „ewigen Wiederkehr“ ist — sich nur auf verbaler Ebene verwirkliche, in der sauberen Einteilung in Zeiträume, im Reich des Abstrakten, nicht dem der Sachlichkeit. Doch mein Gesprächspartner, der Kunstkritiker, sagt: Nein, diesmal ist es vielleicht wirklich so weit, vielleicht bedeuten all das Blut, all diese Toten auf dem Asphalt des größten Platzes der Welt, im größten Land der Welt, daß die große Umwandlung bevorsteht.
Unterdessen hat die Peking-Universität eine neue Vorschrift eingeführt: Vom 5.Oktober an darf man auf dem Campus nicht mehr pfeifen, singen, sich „indezent“ kleiden, und die StudentInnen müssen Strafe zahlen, wenn sie in zärtlicher Pose überrascht werden, etwa, wenn er ihr den Arm um die Schultern legt. Die Obrigkeit hat auch das Buch der Wandlungen verboten, das I Jing, das antike klassische Orakelbuch. Ein Schlag gegen die Moderne, einer gegen die Tradition: so hofft sich der Kommunismus im Gleichgewicht zu halten.
Die antike Übung des „Qigong“
Es ist ein schwankendes Gleichgewicht: Die Zeitungen schreiben tatsächlich, daß zu viele Leute in China in alten Aberglauben und alte Kulte zurückfallen; zu viele wenden sich magischen Künsten und Wahrsagern zu, und zu viele praktizieren die Gymnastik der Energie, das antike Qigong. Im China von heute lautet ein Spruch: „Im Osten, im Westen, im Süden, im Norden und im Zentrum praktizieren alle Qigong.“ Und das scheint nicht übertrieben, da offiziell von fünfzig Millionen Personen gesprochen wird, die Qigong-Gesellschaften beigetreten sind, fünfzig Millionen Personen, die in dieser physischen und spirituellen Disziplin höchstwahrscheinlich ihre „Wahrheit“ suchen, gewiß aber einen Weg, um sich der politischen Gewalt zu entziehen, der alltäglichen Realität.
Anfang Oktober wurde in der Pekinger Abendzeitung das Foto eines Meisters veröffentlicht, der auf einem Blatt Papier in der Luft schwebte. Die offiziell anerkannten Qigong-Meister bestreiten die Möglichkeit derartiger Leistungen, aber die Leute glauben daran, weil das okkulte Qigong den Eingeweihten die Möglichkeit verspricht, in die „Welt der absoluten Überlegenheit“ vorzudringen. Auf diesem Weg könnte auch das Qigong potentiell umstürzlerisch sein und die Doktrin einer neuen Geheimgesellschaft werden — nach dem Muster der Geheimgesellschaften, die in China schon immer den Widerstand schürten; gelegentlich gelang es ihnen auch, die regierende Dynastie zu entmachten.
Ein alter Herr, ein pensionierter Parteifunktionär, erzählt mir, daß das Qigong die Züge einer Massenorganisation annimmt, alternativ zu der der Kommunistischen Partei. Seiner Ansicht nach befriedigt das Qigong die Bedürfnisse sehr vieler Leute, die das Gefühl haben, nicht tot und nicht lebendig zu sein. Es ist ein Phänomen, das dem Zugriff entgleitet, um sich greift. Ich frage ihn, ob die Obrigkeit gegen das Qigong ist. Er antwortet: „Wie könnte sie? Letztes Jahr wurden von einem Buch über die großen Meister vier Millionen Exemplare verkauft. Außerdem ist das Qigong wirklich gut für die Gesundheit. Auch Deng Xiaoping praktiziert es.“
So schwanken die Chinesen heute zwischen Rock und Qigong, zwischen ultramodern und ultratraditionell hin und her, teilnahmslos gegenüber dem, was im Rest der kommunistischen Welt passiert ist. Im taoistischen „Tempel der Weißen Wolken“ habe ich gesehen, wie junge Gläubige Räucherwerk verbrennen, sich vor dem Altar niederwerfen und sogar mit der Stirn den Boden berühren. Außerhalb des Tempels hing ein großes Schild, das ankündigte: „Angesichts der großen Nachfrage nach Glauben seitens der Volksmassen hat die Leitung des Tempels beschlossen, Doktrin-Lehrgänge einzurichten. Für Männer und Frauen getrennt.“ Ein Hinweis auf die Anfangszeiten folgte.
Aus: 'La Repubblica‘.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen