Ein Besuch in Brandenburgs Klein-Amerika

■ Philadelphia und Neu-Boston bei Storkow haben mit den beiden Städten an der amerikanischen Ostküste nur den Namen gemein

Philadelphia. Grau und schwer hängt der Himmel in diesen Tagen über Philadelphia. Nebelschwaden ziehen über die Luchwiesen. Die dünne Eisschicht auf den Teichen und dem Storkower Kanal, der den verträumten märkischen Ort mit den Berliner Gewässern verbindet, beginnt zu brechen.

Philadelphia in Brandenburg hat mit der großen amerikanischen Stadt in Pennsylvania nur den Namen gemein. In dem kleinen Dorf in der Nähe von Storkow — mit knapp 300 Einwohnern — gibt es weder Wolkenkratzer noch Hupkonzerte, Staus und Abgaswolken auf den Straßen. Die Frage nach einer Telefonnummer in Philadelphia/Brandenburg quittiert eine freundliche Stimme bei der Telefonauskunft mit einem lachenden »Hier sind Sie falsch, da müssen Sie das Fernamt anrufen«.

Manchmal kommt jedoch auch in diesen abgelegenen Winkel ein kleiner Hauch der großen weiten Welt. Wenn die Post wieder einmal einen Brief, der nach 1231 Philadelphia gehen sollte, zuerst in die Vereinigten Staaten schickte und dann wieder zurück. Oder wenn sich ein Amerikaner aus Philadelphia nach Philadelphia verirrt.

Aus den Schornsteinen qualmt es, der Rauch der Kohleöfen beißt in der Nase. Auf der holprigen Dorfstraße begegnet man hin und wieder einer Menschenseele. Nur das Gackern der Hühner unterbricht die Ruhe. Die Post, die Gaststätte und der Konsum sind geschlossen — vermutlich für immer. Denn das Geschäft lohnt sich nicht. Verlorengegangen sind damit auch die Plätze, wo man sich ungezwungen traf und plauderte.

...eigentlich wollten sie nach Amerika

Gegründet wurde dieser Ort von Friedrich dem Großen im Jahr 1772. In dem sumpfigen und sandigen Gebiet rund um Storkow siedelte er Sachsen, Pfälzer und Württemberger an, die eigentlich nach Amerika auswandern wollten, aber nicht durften. Warum sie nicht auswandern durften und wer sie daran gehindert hat, ist in der Dorfchronik nicht überliefert. 166 Familien fanden dort in der Mark Brandenburg eine neue Heimat und gründeten neun Kolonien. Eine davon war Philadelphia, die am Gut Stutgarten angesiedelt wurde. 13 Familien bauten sich hier ein Haus von dem Holz, das sie in den Wäldern schlugen, und jede Familie bekam einen Morgen Land. Im Volksmund nannte man das neue Zuhause der Siedler »Hammelstall«, weil sie sich in der Nähe des großen Hammelstalls, der zum Gut gehörte, seßhaft gemacht hatten. Der Überlieferung nach sollen sich die Zugewanderten darüber so geärgert haben, daß sie sich an den preußischen König wandten. Friedrich II. soll ihnen dann den Namen von »drüben« gegeben haben: Philadelphia. Als wollte er ihren Traum von der Reise nach Amerika nicht ganz zerstören. Den Siedlern hat dieser Name offenbar gefallen. Immer wenn sie aufgezogen wurden, hatten sie eine passende Antwort parat: »Der Hammelstall ist abgebrannt, die Hammel sind nach Storkow gerannt.« Reichtum und Wohlstand hat ihnen die neue Heimat nicht gebracht. Für ihr tägliches Brot mußten sie hart arbeiten. Denn das Land, das sie bestellten, war nicht besonders fruchtbar, und als Tagelöhner auf dem Gut konnte man auch nicht viel verdienen.

Während des Dritten Reiches, im Jahr 1934, wurde eine Siedlungsgesellschaft gegründet und das Gut Stutgarten in zwölf kleine Wirtschaften aufgeteilt. Vor allem kinderreiche Familien sollten hier ein Zuhause finden. »Mein Vater kam 1935 nach Philadelphia«, erzählt Herbert Kiesewetter. »Das Haus wurde schlüsselfertig übergeben und dazu 15 Hektar Land. Bezahlt hat man dafür zwischen 12.000 und 15.000 Reichsmark. Natürlich auf Kredit.« Acht Jahre später zog Helene Fiedler von Berlin nach Philadelphia, wo ihr Mann geboren war. Berlin lag bereits in Trümmern, und die Versorgungslage wurde immer schlechter. »Wir haben dann hier bei den Bauern gearbeitet und uns selbst angebaut, was wir zum Leben brauchten«, sagt Helene Fiedler. Kurz vor Kriegsende — im Frühjahr 1945 — flohen viele Bürger des Ortes zu Fuß und mit dem Pferdewagen oder versteckten sich in den Wäldern vor der heranrückenden Roten Armee. Als der Krieg zu Ende war, kehrten sie in ihre Häuser zurück, die teilweise verwüstet und völlig leergeräumt waren.

Nur einen ehrenamtlichen Bürgermeister

Die Männer kamen, sofern sie nicht gefallen oder in Gefangenschaft waren, nach Hause zurück und bestellten die Felder. 1958 wurde die LPG Philadelphia gegründet — benannt nach dem fünften Parteitag der SED. Zwei Jahre später mußten alle Bauern Mitglied der LPG werden.

Inzwischen existiert sie nicht mehr, und die Nachfolgeorganisation kämpft ums Überleben. Die Landwirtschaft kann die Menschen nicht mehr ernähren, und beim Metallwerk mit früher siebzig Arbeitsplätzen ist nach dem Verkauf an einen Berliner Geschäftsmann die Hälfte der Mitarbeiter entlassen worden. Im Gemeindebüro, das vormittags geöffnet ist, kann Renate Bloszat über die traurige Statistik Auskunft geben. 37 Menschen sind arbeitslos, 14 im Vorruhestand. »Vierzig Jahre hat es gedauert, bis wir erfahren haben, daß wir betrogen wurden, aber heute sehen wir sofort, daß wir betrogen werden«, schimpft sie und erzählt von ihrer 15jährigen Tochter, die nun immer zu Hause sitzt, weil der Jugendclub geschlossen wurde und andere Orte mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zu erreichen sind. Renate Bloszat ist quasi das letzte Überbleibsel der einst eigenständigen Gemeinde und berät die Bürger, wenn sie Probleme haben. Seit dem 1. April 1991 gehört Philadelphia zur Verwaltungsgemeinschaft Storkow und hat nur noch einen ehrenamtlichen Bürgermeister. Noch nicht einmal den gibt es in Neu- Boston, das wenige Kilometer von Philadelphia entfernt liegt und eine ähnliche Geschichte hat. Vierzehn Häuser zähle ich im Dorf: kleine, flache Gebäude — zum Teil noch aus dem 18. Jahrhundert — und kleine Ställe aus rotem Klinker. Mehr konnten sich die Bewohner nicht leisten. Manche hatten noch nicht einmal ein Pferd, so daß der Wagen, mit dem das Futter vom Feld oder der Wiese geholt wurde, von Menschen und Hunden gezogen wurde. 35 Einwohner soll der Ortsteil von Storkow heute haben. Jeder kennt jeden, aber so wie früher ist es nicht mehr, sagen die Älteren. Schuld daran ist ihrer Meinung nach das Fernsehen, denn jeder hockt nur noch vor der Glotze. Vor Jahrzehnten war das anders. Abends saßen die Neu-Bostoner gemütlich beisammen und gingen »Zur Spinte«. Die Frauen rupften Gänse, strickten Strümpfe und aßen Pfannkuchen, während die Männer Karten spielten und tranken.

Mit dem schnellen Flitzer in die Hähnchenfabrik

Landwirtschaft gab es nur als Nebenerwerb. Die Männer arbeiteten in Königs Wusterhausen oder Berlin und waren nur am Wochenende zu Hause. Bei Wind und Wetter stapften sie in ihren Holzpantinen und mit ihrem Proviant auf dem Rücken los. Doch das ist längst Nostalgie. Heute braust man mit dem Trabi oder mit einem schnelleren Flitzer über den Feldweg Richtung Storkow in die Hähnchen- oder Schuhfabrik. Doch die alten Wasserpumpen in den Gärten, die halbvermoderten Holzbänke und die Schönheit der fast unberührten Natur laden zu einer Reise in die Vergangenheit und nach Klein-Amerika ein. Ulrike Lückermann