: MEIN GOTT, GOETHE Von Mathias Bröckers
William Shakespeare, so ergab eine Umfrage des 'Sunday Telegraph‘, ist unter den britischen Literaturstudenten out: Die Hälfte aller Hochschulen und Universitäten ermöglichte einen Studienabschluß in englischer Literatur, ohne daß die Studenten die Werke des Hamlet- Dichters kennen. Auch an den Schulen sei es möglich, ohne irgendwelche Kenntnisse über den größten englischen Schriftsteller Bestnoten im Fach Literatur zu erzielen. Kulturpessimisten kommentierten diesen Trend mit der Klage über den „intellektuellen Verfall“ des englischen Volkes.
Das kommt mir irgendwie bekannt vor, denn unserem Shakespeare, der Goethe heißt, geht es hierzulande genauso, und das nicht erst neuerdings. Vor 20 Jahren erzielte ich in der Oberstufe des Gymnasiums meine einzigen Bestnoten im Fach Deutsch — ohne auch nur eine Zeile Goethe zu kennen. Sicher, irgendwann in den unteren Klassen hatte man das eine oder andere Gedicht auswendigzulernen, doch das war, in der ersten großen Pause eingepaukt, in der zweiten schon wieder vergessen. Später wurde dann, für ein paar Wochen, ein muffiges Reclam-Heft des Faust aus der Schulbibliothek zum Objekt unserer Langeweile — ein grauenhafter Deutschlehrer, der wegen seines brutalen ostpreußischen Akzents „der Iwan“ genannt wurde, donnerte etwas vom „größten Drama der Weltliteratur“, welches wir gefälligst zu würdigen hätten. Ansonsten nutzte er als kalter Krieger jede Gelegenheit, um auf „den Iwan“ zu hetzen, denunzierte unseren Rock 'n' Roll als dekadente „Dschungelmusik“ und verbot, in den Pausen „Cliquen zu bilden“. Daß etwas, was ein solcher Typ für „das Größte“ hielt, sich bei uns ins Gegenteil verkehrte, versteht sich. Damals hörte ich gerade meine allererste LP täglich rauf und runter — Beggars Banquet von den Stones—, und hätte ein Lehrer uns den Mephisto anhand von Sympathie for the Devil nahegebracht, wir wären wahrscheinlich auf der Stelle Goethe- Fans geworden. So aber konnte ich, nachhaltig verschreckt, ein komplettes Germanistik-Studium absolvieren, ohne auch nur einen Satz von Goethe zu lesen. Statt dessen studierten wir mit eifrigem Bemühn und bis in die letzte Tagebuchzeile Figuren wie Brecht — der Geheimrat und Staatsdichter, die Hofschranze Goethe, blieb rechts liegen und, so bevölkern heute Tausende von Deutschlehrern die Gymnasien und Hochschulen, die von Goethe nicht viel mehr wissen, als daß er den Faust geschrieben hat. Und das ist gut so! Ich weiß nicht mehr, welcher Zufall mich vor Jahren Goethe entdecken lies, ich weiß nur, daß es nie geschehen wäre, hätte man ihn weiter, wie weiland Iwan, als Mega-Autorität und Hyper-Genie von oben aufgezwungen. Deshalb besteht in Sachen Goethe kein Anlaß, „intellektuellen Verfall“ zu beklagen, im Gegenteil wage ich die Prognose, daß unserem Goethe ein gewaltiges Comeback bevorsteht. Das Weltbild Newtons, der mechanistische Materialismus, dem noch Flachbrettbohrer wie Brecht frönten, stehen vor dem Untergang, und ihre Wachablösung, die ökologische, ganzheitliche, Geist und Materie integrierende Sicht der Natur, steht schon in den Startlöchern. Und mit ihr niemand anderes als Goethe, der all das, was Relativitätstheorie, Quantenmechanik und Chaos-Physik in diesem Jahrhundert entdeckten, als Naturforscher und Dichter gespürt, geahnt, vorweggenommen hat.
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