: F.C. Delius:
■ Ein „Brief an Rushdie“
Lieber Salman Rushdie,
„Tausend Tage im Ballon“, wie findet man da Worte, die laut genug sind, unten gesprochen und dort oben verstanden zu werden? Falls die eine oder andere Silbe Sie erreicht: Ich wünsche Ihnen eine rasche und weiche Landung — oder wenigstens einen glimpflichen Sturz wie der von Gibril Farishta und Saladin Chamcha am wunderbaren Anfang der Satanischen Verse.
Auch wenn Sie nicht der Anstifter für den Einfall sind, einen deutschen Terroristen im Jahr 1977 auf den umgekehrten Weg zu schicken, ihn nämlich zum Himmel auffahren zu lassen, möchte ich meinen Gruß einrahmen mit solch einer Himmelfahrt eines unmusikalischen Staatsfeindes, vier von 350 Seiten aus einem Roman.
Abgesehen vom Auftrieb oder Sturz unserer Figuren, abgesehen von den böseren Luftgeistern: wir im PEN arbeiten weiter daran, daß Ihre Landung so gelingt, wie Sie sie wünschen.
Friedrich Christian Delius
The whole world meets in Wiesbaden: damit die Lüge wahr wird, bin ich dabei, ohne mich ist die Welt nicht vollständig: da bin ich, getarnt als Kurgast, Flaneur in der Fußgängerzone, unsichtbarer Schwimmer im Staatsbad, einmal dem Jungbrunnen des heißen Natriumchloridwassers entstiegen, aufgestanden, auferstanden, wie es die Art oder der unbändige Trieb der Seele ist—
Aufwärts und weg vom toten Körper, der sich in der Zelle streckt und noch nicht mit den Würmern anfreunden muß: aufwärts und raus aus der Kälte der Leichenkammern und endlich weg vom Sektionsbesteck: auf und davon ohne die frischen Wunden, in denen die Ärzte stochern, ohne die Narben, die im Takt des grausamen Herzmuskels pochen—
Einmal die Kugel durchs Hirn, und plötzlich sind alle Verwandlungen möglich, die ich selber bestimme: ein Vogel: ein Luftgeist: ein Wesen unerreichbarer Leichtigkeit oder ein Spaziergänger im Nizza des Nordens an einem Herbsttag so mild—
Ich trage mich ein im zweitbesten Hotel der Stadt unter dem Namen Jörg Dreifaldt und zahle in bar die Kurtaxe, die man mir in der Hölle erstatten wird, gehe die vorgeschriebenen Wege zwischen Kaiser-Friedrich-Bad und Hotel, zwischen Fußgängerstraße, the pedestrian zone always has a tumultuous life, und Kurpark: die Stadt des Rückzugs, der Entfernung aus dem Kampf ums Dasein und beobachte die Laubmänner, wie sie mit Harken die letzten Blätter einfangen und auf Händen wie eine kostbare Beute oder wie eine tote Ratte in die Behälter tragen, ja the whole world meets in Wiesbaden—
Meinetwegen: der Körper im weißen Sarg in den Hauptbahnhof und dann durch die Stadt kutschiert: was ließe sich aus unserem Begräbnis nicht alles machen, eine große Schau der Großzügigkeit, Einsicht, Versöhnung: im Tod hört alle Feindschaft auf: einfach meiner Leiche die Feindschaft verweigern: wenn das kein Anstoß ist für die Seele zum großen Sprung: Salto mortale unsichtbar und ganz allein für mich—
Und wenn ich noch einmal sprechen darf, dann zu euch, den Weltmeistern in allen nichtolympischen Disziplinen: Weltmeister der Empfindlichkeit auf 100 Metern und des Vorauseilenden Angsthabens auf 10.000 Metern, Europameister im Jammern (Freistil), ja ihr traut einem wie mir: dem Mörder, vierfach, zehnfach, tausendfach, Zahlen spielen keine Rolle auf der Bundeskegelbahn: traut mit die Seele nicht zu, schon gar nicht eine, die auffliegt und frei sich bewegt: wenn euch das zu weit geht, denkt bitte an eure Bildungslücken: ein Vogel, der aus des Sterbenden Mund geflogen kommt—
Im Tod hört alle Feindschaft auf: da sind wir uns einig, ich weiß jetzt, da mich mein Atem nicht mehr schmerzt, wo es lang geht: up, up and away, jetzt kann ich von oben und unsichtbar allgegenwärtig dazwischenfahren und über alles hinwegfliegen, was da passiert: meinetwegen: und schneller, höher, weiter rüsten: das letzte Schlußwort sprechen, das verbotene, allumfassende Schlußwort zu wem bitteschön?
Zu euch, verehrte Trauergäste: ihr mit den Masken vor dem Charakter seid meine Erfindung: und für jedes Schimpfwort gut, das mit der Silbe Schwein aufhört: ich liebe euch trotzdem und viel mehr als ihr ahnt, denn ich bin eure Erfindung: einen größeren Verbrecher als mich gibt es nicht: also sind wir kwitt, kiwitt, kiwitt—
Ich gegen euch und ihr gegen mich, wie es seit zehn Jahren geht, in jeder Minute Kampf: und wie wir einander fixieren bis in die Ritzen der Träume, und immer noch und jetzt erst recht und in späteren Zeiten wird gefragt: warum nur, warum? oder alle Schlagersänger vereint am Samstagabend im Finale vor dem Wort zum Sonntag: warum nur, warum? was treibt einen bayrischen Buben wie mich zu dem, was ihr Wahn nennt, gegen die Gesellschaft kämpfen und schießen und bomben?
Wann fing sie an, die unversöhnliche Stimme in mir, Eskalation, Subversion, Aggression, all diese lieben Begriffe? und die einen behaupten: mit der ersten Demonstration, mit dem ersten rebellischen Buch, mit dem ersten Trip, dem ersten Bruch muß es angefangen haben, und andere sagen: nein, viel früher, welches Elternhaus, welche Versäumnisse, welche Kränkungen, welche Einflüsse und schlimmen Flüsterungen, bis das verdiente böse Ende: wenn am Ende aus dem Machandelbaum das geschlachtete Brüderchen fliegt als Vogel: kiwitt, da bin ich: und von den Hausdächern singe:
mein Mutter, der mich schlacht,
mein Vater, der mich aß,
mein Schwester, der Marlenichen,
sucht alle meine Benichen,
bindt sie in ein seiden Tuch,
legts unter den Machandelbaum,
Kiwitt, kiwitt, was für ein schöner
Vogel bin ich!
Schön muß ich singen, schööön, dann winkt die Belohnung: denn Elvis Presley, Sepp Herberger und Ernst Bloch sind schon gestorben in diesem Jahr, Chaplin an den Rollstuhl gefesselt und Beckenbauer an Cosmos New York, Mao liegt im Schweewittchensarg: also freut euch, daß ihr noch einen Helden habt, meinen Selbstmörderleichnam von weißbehandschuhten Polizisten getragen, mein böses Grinsen über und zwischen euch: ein schönes Begräbnis wünsch ich—
Ein unvergeßliches Fest: freut euch über das tüchtige Verkehrsamt, das nicht zu viel verspricht rund um den Hessischen Landtag inmitten der Bannmeile: et là ou se trouve le marché, on fait aussi de la politique, en petit et en grand: ein Fest voller Staus und Mißverständnisse und Farben wie nur ein deutscher Herbst sie zaubert: meinetwegen wird noch am Mittag geputzt und gehämmert, viele Bierfässer rollen in die Keller, Stühle werden zurechtgerückt, Eisfabriken sorgen für Nachschub, Sektkellereien stellen Probepackungen kalt, die neusten Hits werden in die Musikboxen versenkt, Klaviere gestimmt, Lautsprecher installiert, Kabel entrollt, Erbsensuppe vorgekocht, Autolack gewienert, und wenn meine Deutschen ein Volk wären, das Ochsen am Spieß liebt, wären die Feuer längst entzündet und das Vieh gewürzt: here the people know what celebrating means, simply because they are happy people—
Meinetwegen: Wiesbaden wunderbar auf dem Faltprospekt im Hotelzimmer, und wenn ich aus den Kissen höher steige, weiter schaue: tausende von Menschen auf den Beinen: das Spektakel, mich endlich tot und begraben zu sehen: in der Stadt, ein Platz, wo Kräfte gesammelt werden: in überfüllten Zügen rücken sie nach, im dichten Verkehr auf Autobahnen, stop and go auf Bundesstraßen, alle wollen sie möglichst nah ran an den Festzug und die Plätze, Straßen und Fenster, die er passieren wird: im Tod hört alle Feindschaft auf, ein Tag der Nächstenliebe, ein Tag der offenen Tür—
Alle rücken zusammen, gehen aufeinander zu: meinetwegen in der Stunde der Not, die Herausforderung, die ich ihnen geliefert, bestanden: der Staat seine Reifeprüfung: ein großer Tag für das Kleingewerbe in Zelten und Buden an den Feststraßen der hessischen Landeshauptstadt: to see and be seen is the motto for many people—
Bald seid ihr mich los, ein Friedhof findet sich immer, und alle Märchen werden wahr: die Mutter kocht mich als Sauerfleisch und setzt es dem Vater auf den Tisch, dem schmeckt es so gut wie noch nie, der will gar nicht aufhören: als wenn das alles meins wär: das geschlachtete Brüderchen unterm Machandelbaum, guten Appetit, unterm Wacholderbaum, Prost! und schon auf dem Dach in der Höhe das Vorspiel zum Happyend: kiwitt, kiwitt, was für ein schöner Vogel bin ich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen