Die Ohnmacht der Kunst

■ „Glatze“ — Uraufführung eines Stücks über Skins und ein verschnarchtes Provinztheater in Schwerin

Im Westen waren sie bereits mega-out. Als Medienknüller und Modegag hatten sie ausgedient, die Anything-goes-Gesellschaft hatte sich sattgesehen an Bomberjacken und Springerstiefeln, an Hakenkreuz und Hitlergruß — vertraute Bilder waren das, verpuffter Reizstoff, ein Einschaltquoten-Killer. Als dann der Osten wild wurde und anfing, seinen Nachholbedarf zu artikulieren, lag das Thema plötzlich wieder im Trend: die Skinheads und ihr öffentliches Ansehen, diese martialische Mixtur aus Brutalo-Posen, Fascho- Sprüchen und biernebeldumpfem Prolo-Mief.

Die Konjunktur der Kahlköpfe bot dem jungen Schauspieler und Dramatiker Peter Dehler Anlaß, sich Gedanken zu machen, z.B. über eine Kampfparole, die ihm von einer Kaufhauswand ins Auge sprang: „Nazis ins KZ“ — aus diesem Widerspruch schöpfte er den Treibstoff für ein Theaterstück, das sich vor allem an junge Menschen wendet, also an jene, für die das Thema mehr Alltag als Exotik bereithält.

Glatze, uraufgeführt im Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin, ist wider Erwarten weder ein agitatorisches noch ein analytisches Stück geworden. Denn Dehler hat es als backstage comedy konzipiert, als Spiel im Spiel, das wie eine Nummernrevue funktioniert, mit Kabarettszenen, Gesangseinlagen und vielen Seitenhieben gegen die moralische Anstalt Theater, die selbst da noch als Dienstleistungsbetrieb vor sich hindöst, wo sie sich ausgeschlafen gibt und kritisch-aufgeweckt. Glatze ist so ein vorsätzlich-hilfloses Stück geworden, das nicht die Realität ins Visier, sondern die Ohnmacht der Kunst vor der Realität auf's Korn nimmt.

Der Schauplatz: ein verschnarchtes Provinztheater. Hier quält man sich durch die Endproben für ein Stück über die Gewalt als Gesellschaftsspiel, das mit Klischees und Antiklischees jongliert: Die Glatzen knurren, die Fidschis bibbern, Vietnamesen werden aufgemischt und Miezekatzen abgefackelt. Der Volkszorn versammelt sich vor dem „Grill zur deutschen Einheit“ und sympathisiert mit den nationalbewußten Totschlägern; der Bulle ist ein Blindgänger, der Politiker ein Popanz, und die Presse wittert allüberall „Katastrophen und Skandale, Kastrationen und Randale“. Fehlt nur noch die Lynchjustiz in Gestalt einer Rollstuhlrentnerin, die mit der Kalaschnikoff den Meuchelmord an ihrem Stubentiger rächt — der Zeitgeist-Schocker ist komplett.

„Made in Germany“, verkündet der Bundesadler über dem Bühnenportal, und von den Wänden schreit es weiß auf schwarz: „Peng! Peng!“ Es knallt zwar unaufhörlich in Peter Dehlers Inszenierung, aber manchmal wird auch gezielt geschossen, mit Platzpatronen: Ist ja alles bloß Theater. Dafür dreht sich recht schwungvoll das Stereotypen-Karussell. Der Regisseur ist ein Möchtegern-Genie mit integrierter Brüll- Automatik, doch er wütet nicht ganz grundlos: Der „Heldenvater“ des Ensembles schläft im Stehen, die „Komische Alte“ bastelt in Eigenregie an ihren Lachern, der nicht mehr ganz „jugendliche Held“ hängt an der Flasche, der Schauspielstudent will jeden Furz ausdiskutieren, und die Regieassistentin kocht miserablen Kaffee.

Was man zwischen den Querelen und Eskapaden dieser Dilettantentruppe über Skinheads erfährt, bestätigt alle Vorurteile — und verwirft sie zugleich. Dehlers Stück zieht sich zweifellos aus der Affäre, indem es sein Thema nur spielerisch umwirbt, aber es verschafft sich so auch mehr Beweglichkeit — es lacht sich frei vom Kinderglauben der Sozialarbeiter und pfeift auf Sendungsbewußtsein und Konfliktberatung. Schlüpfrig und schlaksig, windig und wendig vagabundiert es zwischen den Fronten, verweigert jedes vorschnelle Urteil und erklärt die Frage kurzerhand zur Antwort.

Moral wird hier allenfalls mit Musik kredenzt: „Das Auge Gottes“, eine Schweriner Rockband, liefert zur Aufklärung die Anmache, melodisches Schwermetall, das Krach und Sinn macht. Das Schweriner Premierenpublikum ließ sich animieren und spendierte aufgekratzten Beifall. Meike Scheffel

Peter Dehler: Glatze. Regie: Peter Dehler, Bühne: Jürgen Müller. Mit Klaus Bieligk, Bodo Schielicke, Lore Tappe, Simone Cohn- Vossen, Ralf Lehm, Marco Albrecht. Staatstheater Schwerin. Nächste Aufführungen: 27. bis 29.Februar.