: Scheingefechte in der ÖTV-Tarifrunde?
Die Stimmung an der ÖTV-Basis und die öffentliche Meinung klaffen weit auseinander/ Aufgestaute Wut über jahrelangen Lohnverzicht/ Ballungsraumzulage und Jobtickets sollen Gemüter besänftigen ■ Von Florian Marten
Wenn heute Hunderte von Gewerkschaftern, Spitzenbeamten und Journalisten zur ersten offiziellen Verhandlungsrunde der gekündigten ÖTV-Lohn- und Gehaltstarife in die Tagungsheimlandschaft des Stuttgarter Degerlochs einfallen, dann ist es wieder einmal soweit: the same procedure as every year. Die Forderung der Mammutorganisation steht: 9,5 Prozent mehr Lohn und eine Aufstockung des Urlaubsgeldes um 550 DM für rund 6,5 Millionen Menschen in Deutschland.
Der Wunsch der ÖTV-Spitze um Monika Wulf-Mathies, die diesjährige Runde mit ein bißchen Arbeitszeitverkürzung anzureichern, fiel bei den Bezirksfürsten gnadenlos durch: Zu tief steckt der Frust aus der Tarifrunde 1988, in der die öffentlichen Arbeitgeber den Lohnverzicht wegen Arbeitszeitverkürzung zur Sanierung ihrer Haushalte verwendeten statt ihn, wie versprochen, in neue Arbeitsplätze zu stecken.
Bei der gewerkschaftsinternen Vorbereitung dieser Tarifrunde machte die Basis unmißverständlich klar: Diesmal geht es um Geld — und um sonst gar nichts. Auf 14 bis 30 Prozent beziffern Experten den Einkommensrückstand der StaatsdienerInnen gegenüber der privaten Wirtschaft. Auch das Argument mit der angeblich so hohen Pension beziehungsweise Rente zieht nicht mehr: 1991 wurde die unter bestimmten Voraussetzungen mögliche „Überversorgung“ im öffentlichen Dienst gekippt. Nach 40 (früher 35) Dienstjahren beläuft sich jetzt die Rente auf 75 Prozent des letzten Einkommens. Das entspricht ziemlich genau dem, was in der Privatwirtschaft in der Addition von Betriebsrente und gesetzlicher Rente üblich ist.
Bei einer Podiumsdiskussion am letzten Wochenende in München zum Thema Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst waren sich denn auch, wie die 'Süddeutsche Zeitung‘ erstaunt vermerkte, „die Arbeitnehmer, der Vertreter der Staatsregierung und die Landtagsabgeordneten aller Fraktionen unerwartet einig: Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst werden zu schlecht bezahlt. Der Staat hat als Arbeitgeber an Attraktivität verloren.“ Auch Hamburgs ÖTV-Chef Rolf Fritsch sorgt sich: „Der öffentliche Dienst blutet aus — und das in einer Zeit, wo die Ansprüche der Menschen an bessere und qualifiziertere städtische Dienste steigen.“
Die miese Stimmung ließ die Hamburger Gewerkschafter schon kräftig auf den Putz hauen: Mit einem Sockelbetrag von 450 Mark pro Monat für alle, einer durchschnittlichen Lohnerhöhung von über 15 Prozent lag Hamburg im Forderungskonzert der elf ÖTV-Bezirke einsam vorne. Fritsch hält wenig von einer „nackten Lohnmaschinenrunde“. Man müsse gezielt mit bestimmten, vom Lohnrückstand besonders betroffenen Gruppen gerade auch in der Öffentlichkeit für Strukturverbesserungen kämpfen.
Die Stuttgarter ÖTV-Führung hielt davon dagegen wenig. Sie hatte jedoch Mühe, die offizielle Forderung unter zehn Prozent zu halten. „Die Erwartungshaltung an der Basis ist riesig“, so formulierte ein Insider. Ganz anders die öffentliche Meinung: Seit Wochen durch eine konzertierte Aktion von Bundesregierung und Medien auf leere Haushaltskassen und eine drohende Rezession wegen übertriebener Lohnforderungen eingestimmt, stützt sie voraussichtlich die Position der Arbeitgeberdelegation, die dieses Jahr Bundesinnenminister Rudolf Seiters (Chefunterhändler), Heide Simonis (Ländervertreterin) sowie der Duisburger Oberstadtdirektor Klein (für die Gemeinden) bilden. Freilich: Auch den öffentlichen Arbeitgebern ist nicht ganz wohl in ihrer Haut, wissen sie doch um die Schwierigkeiten, qualifizierte Kräfte zu bekommen und zu halten.
So wagte sich Heide Simonis Anfang der Woche mit dem Vorschlag hervor, die ÖTV solle doch eine stattliche Sockelforderung stellen, um gerade die oftmals bedrückende finanzielle Situation im einfachen Dienst zu lindern. Das Bundesinnenministerium hat eine andere Idee: Eine Ballungsraumzulage von 150 Mark pro Nase und Monat plus weitere 40 Mark je Kind bis zur Gehaltsgruppe A14, wie bereits in München gezahlt, sollte bundesweit für Städte der obersten Wohngeldklassen eingeführt werden. Hübscher Nebeneffekt: Der Umzug nach Berlin würde für die Bonner finanziell aufgewertet.
Die dadurch zusätzlich belasteten Großstädte könnten sich das Geld durch einen kleinen Trick zumindest teilweise zurückholen: mit Jobtickets für den öffentlichen Personennahverkehr, die — vom Lohn abgezogen — direkt in die Kassen der kommunalen Verkehrsunternehmen umgebucht werden können. Das Kalkül der Arbeitgeber: mit Bonbons für Problemgruppen den Dampf aus der Lohnrunde nehmen, um einen insgesamt kassensparenden Abschluß von höchstens knapp über fünf Prozent zu erreichen.
Ob es nach der vierten Verhandlungsrunde noch den Einstieg in das komplizierte Schlichtungsverfahren geben wird, mit dem beide Seiten gesichtswahrend ihre längst zustandegekommene Einigung der Öffentlichkeit verkaufen? ÖTV-Chefin Monika Wulf-Mathies jedenfalls scheint an einer schnellen Einigung gelegen. In der Mitgliedschaft darf freilich nicht der Eindruck entstehen, die ÖTV habe sich über den Tisch ziehen lassen. Wie auch immer: Das Ergebnis der Tarifrunde steht, wie meist, schon ziemlich genau fest. Insider-Wetten laufen auf 5,5 Prozent Lohnerhöhung, Urlaubsgeld miteingerechnet.
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