: Der Leukämie bei Krümmel auf der Spur
Bremer Physikerin Inge Schmitz-Feuerhake sieht in Strahlung aus Atomkraftwerk die naheliegendste Ursache für Leukämie/ Strahlenexperten beschließen Untersuchung von dreißig Kindern ■ Aus Hannover Jürgen Voges
Die Bremer Physikerin Inge Schmitz-Feuerhake war sich nach der Sondersitzung der 25köpfigen Expertenkommission „Leukämie in Sittensen und Elbmarsch“ sicher: Zumindest für drei der insgesamt zwölf Blutkrebserkrankungen in den beiden niedersächsischen Gemeinden mit je rund achttausend Einwohnern habe man inzwischen die Ursache gefunden. Sie seien auf zu häufiges Röntgen in der Praxis eines Sittenser Orthopäden zurückzuführen, sagte die sichtlich erschöpfte Physikerin am Donnerstag in Hannover. Bei Kindern aus der Samtgemeinde Elbmarsch, die Inge Schmitz-Feuerhake ebenfalls mit der Methode der „biologischen Dosimetrie“ nach Strahlenbelastungen in der Vergangenheit untersucht hat, seien zwar auch vermehrte Chromosomenschäden festgestellt worden, doch diese Erhöhung sei „statistisch noch nicht aussagefähig“. Dennoch sah die Bremer Wissenschaftlerin in gasförmigen Emissionen von radioaktivem Tritium aus dem AKW Krümmel oder dem Versuchsreaktor Geesthacht die naheliegendste Ursache der sechs Krebserkrankungen in Elbmarsch.
Frau Schmitz-Feuerhake war am Donnerstag nach der Kommissionssitzung eigens mit dem Flieger nach Hannover geeilt. Die Diskussion der in München versammelten Experten stellte deren Vorsitzender, der Wuppertaler Epidemiologe Professor Erich Wichmann, allerdings anders dar: Die 25 vom niedersächsischen Sozialministerium berufenen Experten seien sich einig gewesen, „daß die bisherigen strahlenbiologischen und epidemologischen Erkenntnisse für eine Bewertung noch nicht ausreichend sind“. Jeweils dreißig Kinder aus Elbmarsch und aus einer unbelasteten Kontrollregion sollen aber nun nach der Methode von Frau Schmitz-Feuerhake untersucht werden.
Seit eineinhalb Jahren und bisher erfolglos sucht die Expertenkommission des niedersächsischen Sozialministeriums in Elbmarsch und Sittensen nach allen möglichen Ursachen der Kinderleukämie. In beiden Gemeinden sind jeweils fünf Kinder und ein Jugendlicher an dem Blutkrebs erkrankt, ist die Leukämierate um das zehn- bis fünfzehnfache erhöht. Da in der Samtgemeinde Elbmarsch alle Fälle in nur zwei Jahren aufgetreten sind, kann man dort von der weltweit höchsten Leukämierate sprechen.
Auch in der Kommission gelten die Leukämieerkrankungen dort als „Signaltumore für Radioaktivität“. Doch Untersuchungen des Bodens und des Elbwassers auf radioaktive Belastungen sind ergebnislos geblieben. Radioaktive Belastungen durch Störfälle, bei denen Tritium oder radioaktive Edelgase über den Schlot von AKWs freigesetzt wurden, können allerdings durch solche Bodenuntersuchungen im nachhinein nicht mehr festgestellt werden. Auch solche Störfälle hinterlassen allerdings wie jede Strahlenbelastung Spuren im Erbgut der betroffenen Menschen.
Nach diesen Spuren, nach für Strahlenbelastung typischen Cromosomenveränderungen, hat Frau Schmitz-Feuerhake sowohl in Sittensen als auch in Elbmarsch gesucht. Bei dem auch „biologische Dosimetrie“ genannten Verfahren wird nach sogenannten „dizentrischen“ Chromosomen gesucht: das sind Erbfäden, die während der Zellteilungsphase nicht an einem Punkt verbunden sind, also wie ein X aussehen, sondern an zwei Punkten. Für dieses komplizierte Verfahren müssen zunächst Blutzellen kultiviert und quasi in der Teilungsphase gestoppt werden. 10.000 Zellen muß man in der Regel unter dem Mikroskop untersuchen, um tausend im Teilungstadium zu erwischen. Unter den 46.000 Chromosomen, die diese 1.000 Blutzellen enthalten, finden sich dann bei einem erwachsenen, gesunden Menschen im statistischen Durchschnitt 0,4 dizentrische.
Da bei an Leukämie erkrankten Kindern die Chemotherapie ebenfalls zur Bildung von dizentrischen Chromosomen führt, hat Professor Schmitz-Feuerhake in Sittensen und Elbmarsch die Zellen gesunder Geschwister der Leukämiekranken untersucht. Bei den drei Kindern in Sittensen fanden sich auf tausend Zellen einmal sieben dizentrische Chromosomen, einmal eines und einmal überhaupt keines mit dem typischen Schaden. Da diese Kinder zwanzig-, zehnmal und siebenmal in der Praxis des Sittenser Orthopäden geröntgt wurden, ist für die Bremer Physikerin ein Zusammenhang zwischen der Häufigkeit des Röntgen und der der Chromosomenschäden erwiesen.
Bei den fünf gesunden Geschwistern, die in der Samtgemeinde Elbmarsch nach diesem Verfahren untersucht wurden, wurden insgesamt fünf dizentrische Chromosomen festgestellt. Für Frau Schmitz-Feuerhake ist auch dieser Wert erhöht, weil nach ihrer Ansicht bei Kindern im Normalfall wesentlich weniger Chromosomenschäden zu erwarten sind als bei Erwachsenen. Da es allerdings weltweit bisher keine Festlegung eines solchen „Normal-“ oder „Vergleichswerts“ für dizentrische Chromosomen bei Kindern gibt, hält auch die Bremer Physikerin die jetzt beschlossenen weiteren Untersuchungen für dringend notwendig.
Wenn sich am Ende Radioaktivität als Ursache für die weltweit höchste Leukämierate in Elbmarsch bestätigen sollten, dann will das niedersächsische Sozialministerium in Schleswig-Holstein auf die Stillegung des AKWs Krümmel dringen, das gegenüber der Samtgemeinde auf der anderen Seite der Elbe liegt.
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