KRITIK: Wider die Mißachtung des Alters
■ Einspruch eines Fünfundachtzigjährigen
Jungsein ist alles. Es wurde in diesem Jahrhundert Lebensziel unzähliger Menschen, vor allem in den „sogenannten“ entwickelten Ländern. Ehrfurcht vor dem Alter, Rücksicht auf das Alter, in vielen Kulturen der Menschheitsgeschichte verankert, bis vor wenigen Generationen selbstverständliche Forderung an die Nachwachsenden, wenn auch im täglichen Leben immer wieder verletzt, ist heute selten geworden, entwertet, abgetan.
Das Recht auf Selbstverwirklichung, das gewiß auch Kräfte lösen, Entwicklung fördern, Erfüllung schenken kann, wird zur Farce, wenn es in Ichbezogenheit und Empfindungslosigkeit gegenüber den Mitmenschen und besonders den Alten endet. Ich denke, daß man dieser Überschätzung des Jungseins und der mit ihr verbundenen Geringschätzung des Alters widersprechen und widerstehen muß. Beide sind nicht isolierte Erscheinungen. Sie sind tief in unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Organisation verwurzelt.
Wo wissenschaftliche Untersuchungen zu „beweisen“ scheinen, daß der Mensch mit 35 Jahren den Gipfel seiner Leistungsfähigkeit und Schaffenskraft erreicht hat, wo der Fünfzigjährige oft schon keine Arbeit mehr finden kann, weil er „überaltert“ ist, wo der Erfolg in einem rücksichtslosen Wettbewerb als hoher Wert gesehen wird, muß Altsein fast zwangsläufig als Belastung, als Nichtwert empfunden und beurteilt werden. Und das alles geschieht in einer Zeit, in der in den industriellen Ländern die Zahl der alten Menschen ständig wächst und sich das Verhältnis zwischen den Generationen immer mehr „zugunsten“ der Alten verschiebt.
Erst allmählich dringt diese Entwicklung in unser Bewußtsein. Die Sorge um die Sicherung der Renten und das Ringen um eine Pflegeversicherung, die als eine Aufgabe der Allgemeinheit und nicht nur als Verpflichtung des einzelnen anerkannt werden soll, sind Zeichen dafür, daß ein Sinneswandel begonnen hat und man die alten Menschen nicht alleinlassen will.
Aber das ist nur die eine Seite des Altersproblems. Denn Alter hat ein Doppelgesicht. Es ist Beschwernis, Krankheit, Hilflosigkeit, Einsamkeit und Erstarrung, es ist aber auch fähig zur Einsicht, Reife und Weisheit, zur Bereitschaft, anderen beizustehen, zum Verständnis für die Kommenden, zum kritischen Begleiten des Gegenwärtigen und sich Entfaltenden.
Naturwissenschaft und Medizin und die tägliche Erfahrung haben uns gelehrt, daß das biologische Alter in immer mehr Fällen mit der tatsächlichen Schaffens- und Lebenskraft nicht deckungsgleich ist. Wir werden in Zukunft die Erfahrung, Reife und Tatkraft älterer Menschen besser nutzen müssen als bisher. Wir werden sie nicht mehr in jedem Fall nach dem gesetzlichen Ausscheiden aus dem Arbeitsleben auf ihre Hobbys beschränken, die gewiß auch in manchen Fällen schöpferisch und für die Gesellschaft fruchtbar sein können, sondern ihnen die Möglichkeit geben, weitere Verantwortung zu übernehmen und Aufgaben im Rahmen unserer Gesellschaft zu erfüllen, bis ihnen der eigene Wille oder die Natur Grenzen setzt.
Das setzt freilich auch eine flexiblere Berufs- und Arbeitsorganisation als die gegenwärtige voraus, die individuelle Lebensgestaltung möglich macht und verfestigte Strukturen aufbricht, die es zum Beispiel gestattet, Perioden der beruflichen Arbeit mit Perioden einer anderen Lebensform abwechseln zu lassen. Ansätze dafür gibt es ja schon, wenn man an die Veränderungen denkt, die sich in Familie und Ehe vollziehen, oder an den Wunsch vieler Menschen, ständig oder zeitweise ihre Arbeitszeit zu verkürzen.
Schließlich kann die Durchmischung der Altersgruppen, die eine solche Veränderung mit sich bringt, zu einem vertieften Verhältnis zwischen den Generationen, zu einem ausgeglicheneren Miteinander und zu gegenseitiger Befruchtung führen. Gewiß bringt Jugend oft neue Ideen, neue Versuche, neuen Schwung in verfestigte, erstarrende Verhältnisse, umgekehrt kann Alter oft auch hektische Betriebsamkeit, unüberlegtes Handeln verhindern und zu einer konflikfreieren Entwicklung beitragen.
In der heutigen Gesellschaft ist es— auch im Blick auf die Zukunft — wichtig, daß das Verständnis zwischen den Generationen erhalten bleibt, daß gegenseitige Achtung und gegenseitige Hilfe ihre Beziehung tragen und erwärmen, daß — um zum Ausgangspunkt zurückzukehren — die alten Menschen nicht ausgegrenzt werden und sich abgeschoben fühlen, sondern nach ihren Kräften auch die Zukunft mitgestalten können.
Der ungeheure Wandel, den die Menschheit in diesem Jahrhundert durchlebt, zwingt uns, neu zu denken und neu zu handeln. Das gilt auch für das Verhältnis der Generationen zueinander.
Die Ökologie der Herzen und Seelen ist Teil dieses Prozesses. Ohne sie überwältigt uns der ungehemmte Machtwille des Menschen gegenüber der Natur, von deren Gesetzen er doch abhängig ist, und die zügellose Freiheit seines Denkens und Handelns, die keine Grenzen kennt und zur Selbstvernichtung führt. Herbert Enderwitz
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