: Die Anatomie der Lust
■ Druckgraphik von dem Erotomanen Hans Bellmer in der Kunsthalle
Minutiös gezeichnete, feine, fast quälend genaue Linien ziehen sich über Körperteile wie ein Netz: Bellmer zeichnet kaum Körper, sondern meist Fragmente, die in ihrer Austauschbarkeit die verschiedenen erotischen Besetzungen demonstrieren, zu denen das „körperliche Unbewußte“ (Bellmer) fähig ist.
Zum 90. Geburtstag von Hans Bellmer zeigt die Kunsthalle ab heute rund hundert seiner druckgraphischen Arbeiten. Bellmer nennt diese seine Metamorphosen, in denen z.B. ein Auge im Gesicht einer Frau die Form von Schamlippen annimmt, während sich im Schoß eines weiblichen Torsos ein Auge öffnet (Abb.), „Anagramme des Körpers“. Die von Andreas Keul sorgfältig präsentierte Ausstellung zeigt mit Einzelblättern und Zyklen einen Querschnitt durch praktisch alle Werkphasen des Künstlers, der in der breiten Öffentlichkeit immer noch wenig bekannt ist. Doch von Kollegen wurde er früh geschätzt: Otto Dix und Georg Grosz waren von seiner zeichnerischen Perfektion beeindruckt; und in seiner zweiten Heimat, in Paris, wohin er 1938 übersiedelte (und wo er 1975 starb) wurde er begeistert im Kreis der Surrealisten um Andre Breton aufgenommen.
Hans Bellmer, 1902 in Kattowitz, im heutigen Polen, geboren, wuchs in einer von tiefer Angst vor seinem verhaßten, autoritären Vater geprägten Umgebung auf, in der die Zärtlichkeit seiner empfindsamen, sich völlig aufopfernden Mutter den Gegenpol bildete. Sein symbiotisches Verhältnis zu ihr lebte ihnm Begehren nach der totalen Verschmelzung von Mann und Frau weiter — in Bellmers Kunst gipfelt dieses Verlangen in letzter Konsequenz in der Figur des Hermaphroditen, des mythischen Wesens, in dem die Geschlechter zusammengewachsen sind.
Gewalt und Liebe, in allen möglichen Schattierungen miteinander verbunden, begleiteten ihn zeitlebens. Schicksalhaft ist die Begegnung mit seiner 16jährigen Cousine Ursula gewesen, die, für ihn unerreichbar, eine immerwährende Quelle erotischer Phantasien war. Die Figur des Vaters aber stand für Zucht, Rechtschaffenheit und Gesetz — und für die Willkür des Mächtigen: Bellmer war ein absoluter Gegner des Nationalsozialismus, sein Vater ein überzeugter Nazi.
Bellmers Erotik ist auch eine Revolte gegen den Vater und dessen Welt, in die der Sohn, wie er sagte, „mit dem ausgeprägten Wunsch nach Wohlbehagen, nach einem grenzenlosen, paradiesischen Sichgehenlassen geboren“ worden war. Dieses paradiesische Sichgehenlassen, das im Orgasmus am nächsten scheint, wird zu Bellmers zwanghaftem Ziel, zu seiner Obsession, der er sich auch als Zeichner hingibt. Katerina Vatsella
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen