V O N D E T L E F K U H L B R O D T

Schokoladenfabrik

»Am liebsten gehe ich natürlich in den Schokoladen«, sagt der Künstler, Dichter, Musiker Jörg Janzer. »Das ist das Billigste und das Beste. Das reicht mir für den Rest des Lebens.«

Wie dem ehemaligen Leiter einer westdeutschen Nervenklinik, der vor vierzehn Jahren seinen Job schmiß, »um gesund zu werden«, geht es vielen. Wer die Schnauze voll hat von Bier in sektähnlichen Gläsern zu entsprechenden Preisen, wem das »Silberstein« zu kunstgewerblich und teuer, die Kollwitzstraße zu überlaufen, »das Grün zu grün und das Blau zu blau« ist (P. Wawerzinek), wer einfach trinken und reden möchte, landet irgendwann in der »Schokoladenfabrik«, die weder verwandt noch verschwägert ist mit ihrer feministischen Namensnichte im Westteil der Stadt.

Hier leuchtet die Theke einladend wie ein Weihnachtsbaum, um den sich Punks, Künstler und Nachbarn emsig scharen. Zwischen kleinen, bunten elektrischen Weihnachtskerzen macht ein sozialistisch-realistischer Mann-mit-Hammer für den II. Parteitag der SED Reklame. Der Helm eines Arbeitsschutzplakates daneben fängt geschickt den Schlag des proletarischen Muskelprotzes auf: »Wir halten Ordnung am Arbeitsplatz.« Am Rande sitzt ein Sommerfrischler mit seiner Angel am Fluß und wirbt für Schultheiss am Wochenende. Der halbe Liter »Berliner Pilsener« kostet 2.50 Mark. Verhüllt sind die Lampen von schneller Kunst. An der Decke hängt ein großer Ventilator. Am Ventilator hängt ein Weihnachtsmann und dreht sich zigarettenrauchend, wie es dem Strom gefällt. Irgendwo grüßt schüchtern eine DDR-Fahne.

Der Comiczeichner Holger Fickelscherer hat hier sein Stammlokal. Mit seinen Freunden von der Künstlergruppe »PGH-Glühende Zukunft« und Kollegen aus der Redaktion der Zeitschrift 'Warts up‘, neben den Mitstreitern des Comicmagazins 'Renate‘ steht er sehr real am Tisch und spricht vom Verschwinden: West-Berlin gab es doch nie, schlägt er vor. Das würde man beispielsweise an der Gedächtniskirche sehen. Die sei doch nie fertig geworden. Und wahrscheinlich hätte es vor der Grenzöffnung Absprachen gegeben, und dann hätte man sich arg ins Zeug gelegt in West-Berlin, um aus der Kulissenstadt eine wirkliche zu machen. Durstig kippt der Zeichner noch ein Bier und erzählt belustigt von den ungeschickt hingemalten Hakenkreuzen auf den Jeans jugendlicher Neonazis. An einem anderen Tisch hat Jörg Janzer, »den Begriff der funktionalen Verblödung bei formal intakter Intelligenz« für sich herausgefunden und schwankt ein wenig zwischen der eher deprimierenden Feststellung: »Unser Geist ist ein einziger Scheißhaufen« und dem hoffnungsfrohen Begriff einer »klarsichtigen Verwirrtheit«, die einen zwischendurch häufig in das festlich erleuchtete, durchgehend geöffnete Schnellrestaurant »Bernhards Imbißgarten« (Ackerstraße/Ecke Wilhelm-Pieck-Straße) lockt.

Schokoladenfabrik; Ackerstraße 169; Berlin-Mitte; ab 20 Uhr